Auf geht's -

nach Zigeunerland!


Sonntag, 22. Mai, um 9 Uhr, Abreise vom Hohen Westerwald. Über Koblenz, Trier, Luxemburg, Metz, Nancy, Épinal, erreichen wir nach 530 Kilometern und dank Elkes perfekter Copilotinnen-Leistung (wg. einer unvorhersehbaren Baustelle in einer Ausfahrt nur unwesentlich verfranst), sechs Stunden später, gegen 15.15 Uhr Fontenois-la-Ville.

Vor der Auberge „Chez Colette“, in deren Gebäude auch das Büro der Zigeunerwagenstation residiert, eingerahmt von einer Kirche mit beeindruckendem Stunden-Schlagwerk und dem kombinierten Rat-und Schul-Haus, erwartet uns schon Francoise Mantey, die freundliche Leiterin des „Centre Touristique“.

In diesem, ihrem Büro registriert sie unsere Buchung, nimmt die fällige Kaution von 230 Euro entgegen und überreicht uns die Mappe mit Informationen zu Pferd, Wagen und Etappen unserer Tour. Es wird die  „Route 1“ sein, die „leichteste“ von dreien, mit den wenigsten und am wenigsten heftigen Steigungs- und Gefälle-Passagen. Die Route 2 verläuft weiter östlich, zur Hälfte in den Vogesen und Route 3 fast nur in den Vogesen, wie wir später erfahren.

Durch den Rundbogen des stattlichen, ehemaligen Bauernhauses führt uns Francoise über den Parkplatz der Zigeunerwagen zu dem für unsere Benzinkutsche.

Die dürfen wir nun für eine ganze Woche vergessen, eingetauscht gegen ein Slow-Mobil, auf dem Zigeuner-Trip, le trip des bohémiens.

In einer Ecke dieses zweiten Platzes befindet sich, wie auf fast allen Stationen der kommenden Rundreise, ein durchaus funktionaler Sanitär-Container mit Wasch-, Duschgelegenheit und Toiletten (meist allerdings Hock-Klos, die unserer Meinung nach nur von gymnastisch durchgebildeten Körpern würdevoll nutzbar sind).

An der gegenüber liegenden Seite beeindruckt ein Schmiede-Schuppen

mit wuchtigem „Beschlag-Stand“ zur Ruhigstellung der Pferde beim Beschneiden und Beschlagen ihrer Hufe.

Daneben eine museumsreife Tisch-Esse mit Handgebläse,

ein Amboss

und ein kleiner Berg abgelaufener, alter Eisen.

Die ausgedienten Huf-Schoner der hier tätigen Bio-Motoren messen an der größten Breite um die 20 cm. Ein erster, nicht allzu diskreter Hinweis auf das Kaliber der Pferde, die uns erwarten. Ein Erinnerungsexemplar dieser Eisenschuhe ziert heute die Futterkiste von JARON und JANKID in Breitscheid.

Schnell hat uns Francoise die Technik des Wagens erklärt:

Ein Tisch in der Längsachse und in der Mitte des Wagens ist auf die Höhe der beiden Bänke rechts und links davon absenkbar. Die abnehmbaren Rückenlehnen der Bänke passen genau auf die Tischplatte und zwischen die beiden Bänke, mit denen sie sich so zu einem geräumigen und durchaus komfortabel weichen Doppelbett ergänzen. Genau diese Gestaltung des Wagen-Interieurs sollte es für uns die gesamte Woche über unverändert sein.

Von außen zugänglicher Stauraum zwischen den Achsen der rechten Wagenseite enthält Wasserkanister und Putzutensilien für das Pferd. An der linken Seite befinden sich dort Gasflaschen und -brenner der „Küche“. Der Deckel dieses linken Stauraums wird zur Arbeits- und Herdplatte, ebenso wie eine Hälfte der gesamten linken Seitenwand des Wagens zum „Küchen-Dach“, wenn sie nach oben geklappt und abgestützt werden.

Regale rechts und links des rückwärtigen Wagen- Ein- und Ausstiegs nehmen reichlich Decken für kalte Nächte auf, Besteck, Geschirr, einen kleinen Heizlüfter und einen kleinen Kühlschrank, die per bordeigenem Verlängerungskabel an jeder Zwischenstation mit Energie versorgt werden.

Auf die Dienste des Heizlüfters konnten wir trotz durchaus „Eisheiliger“ Nacht-Temperaturen während unserer Woche verzichten. Unsere mehrfach Schottland erprobten, bis angeblich unter minus 20 Grad tauglichen Schlafsäcke taten auch diesmal und immer noch ihre Dienste ohne Beanstandungen.

Die restlichen, für eine Woche „on the road“ mitgebrachten Utensilien sind ebenfalls schnell aus dem Seat im knallroten Plastik-Planen-Wagen verstaut.

Übrigens, eine quasi neuzeitliche Version traditioneller Zigeunerwagen, die hier alternativ angeboten werden. Für sie hatten wir uns vor allem deshalb entschieden, weil die darin avisierte Schlafgelegenheit für meine Körperlänge (184 cm) größeren Streckkomfort versprach, als die in den Nachbauten historischer Wagen aus Vollholz.

Die entsprechen zwar der landläufigen Vorstellung von einem „richtigen“ Zigeunerwagen viel besser als die, allerdings, gewöhnungsbedürftigen, knallroten Gummi-Planen-Wagen der Wagenschmiede Hans Kurmann aus Willisau in der Schweiz.

Bei einem Leergewicht der traditionellen Holzwagen von fast 1,1 Tonnen sind wir – mit den Erfahrungen unserer Tour-Woche, noch mehr – davon überzeugt, dass die 700 Kilo der roten Slow-Mobile eine fairere Sache für die Pferde sind, schließlich sind sie die Hauptakteure dieser Veranstaltung!

Auch wenn es "Fachleute" gibt, die sagen, dass Pferde allgemein das Dreifache ihres Eigengewichts, Comtois also, mit 700 bis 800 kg, zwei bis nahezu zwei ein halb Tonnen, „problemlos“ bewegen können - über die grundsätzliche Frage hinaus, ob dies für Kurz- oder Langstrecke, für Maximalkraft oder Ausdauer gilt - zur reinen Zug-Leistung eines Kutschpferdes kommt ja noch die physikalische und wohl mehr noch psychische Arbeit bei der Abwehr eines unvorstellbaren Terrors parasitierender Flug-Insekten mit bis zu Hornissengröße.

Je feuchter und wärmer, desto mehr quellen von dieser Laune der Natur aus der Landschaft. Die nicht gerade sensiblen, mäßig dezenten Speise-Techniken und entsprechend bedrohlich assoziierten Fluggeräusche dieser, durch noch so dicke Säugetierhäute raspelnden, bohrenden, beißenden Flug-Terroristen lösen nicht selten, auch bei an sonsten sehr ruhigen Tieren, panische Fluchtreaktionen aus. Von Narben alter Blut-"Zapf-Stellen" übersäte Füße sind nur allzu unübersehbare Indizien.

Abgesehen davon, dass „man“ grundsätzlich nicht alles, was möglich ist, auch tun muss - wir meinen, alle künftig ausgemusterten alten Wagen sollten nur durch solche ersetzt werden, die nach dem neuesten Stand der Technik so sicher und vor allem so leicht wie möglich gebaute wurden; vielleicht auch mit größeren Raddurchmessern, also geringerem Rollwiderstand.

Die roten Plastik-Planen-Wagen sind ein guter Schritt in diese Richtung.

Wenn es unbedingt die über 50% schwereren Holz-Wagen sein „müssen“, dann sollten die von zwei Pferden gezogen werden. Womöglich „gefühlte“ Abstriche historischer Authentizität sind im Sinne des obersten Grundsatzes der Pferdeschonung nach Benno von Achenbach zu verkraften, ja, für unser Gefühl absolut geboten.

Zigeuner 2.0, "moderne" Behémiens, werden ihren Bio-Motoren doch wohl den selben high-tech-Komfort und die entsprechende Sicherheit gönnen, die sie in ihren ottomotorisierten Benzinkutschen selbstverständlich erwarten?!

Ein Zweiergespann müsse doch sehr viel schwerer zu fahren sein als ein Einspänner, ist eine Einschätzung die sich wohl weitester Verbreitung erfreut. Auch zu unserem großen Anfänger- Erstaunen sagt Silvia Hagemeyer, die erfolgreiche Sport-Fahrerin aus dem hessischen Dillenburg, genau das Gegenteil:

"Der Umgang mit nur einem Pferd vor dem Wagen ist schwieriger = riskanter = potenziell gefährlicher als bei einem Zweiergespann".

Die praktischen Erfahrungen, die wir mit DEVISE, „unserem“ Pferd in der Zigeuner-Woche machen durften, sprechen eindeutig mehr für Silvias Experten- Urteil als für das gegenteilige, scheinbar evidente Vor- Urteil.

Klar, bei einem Zweiergespann mit zwei dicken Hanfstricken der landwirtschaftlichen Anspannung in den Händen hätte nicht nur der Laien- Kutscher seine liebe Mühe.

Allerdings mit einer Kreuz-Verschnallung, einer y-förmigen Verbindung der rechten Maulseiten (Kandaren-Bäume) beider Pferde mit einem Ende und entsprechend der linken Maulseiten mit dem anderen Ende einer Leine zum Kutscher, würde das Lenken von zwei Pferden im Wortsinne vereinfacht und entsprechend sicherer.

Aufschirren und Anspannen wären zwar etwas aufwendiger. Dafür neutralisieren sich aber im Zweiergespann impulsive Einzel- Aktionen dieser Fluchttiere doch häufiger als dass sie in die selbe Richtung gingen und ihre Gefährlichkeit dadurch vergrößerten.

Eben diese neutralisierende Wirkung von zwei Pferden aufeinander macht ihren entscheidenden Vorteil gegenüber dem Einergespann in Bezug auf Handling und Sicherheit gerade und besonders für uns Laien- Kutscher aus.

Und letztendlich: Wirtschaftlichkeits-Erwägungen – zwei Pferde statt einem schmälern den Profit – dürften für ein Unternehmen wie ReNatur, mit seinen ökologisch-moralischen Ansprüchen, (eigentlich) tabu sein.

Selbst wenn dadurch die Kostenseite eine Anpassung des Preises erzwingen würde, bei entsprechend erläuternder Darlegung der Gründe werden sich die „richtigen“ Kunden auch durch ein paar Euro mehr nicht davon abhalten lassen, weiterhin „Roulez Nature“ zu buchen. Das vorbildliche kleine Informations-Heft von ReNatur ist ein gutes Medium dafür.


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