Magdalena Damerow

Muttel, 1947

geboren am 11. Dezember 1920 im Klessengrund, Kreis Grafschaft Glatz in Schlesien 

gestorben am 6. August 2003 in Villingen, Schwarzwald, Baden-Württemberg 


Dies ist eine Rede, die vorgesehen war für die Beisetzung der Urne am Freitag, dem 15. August 2003 – was ein aufkommendes Gewitter und andere Umstände teilweise behindert und verhindert haben. 

Anwesend: Elke, Karlheinz, Hans Christian, Frau Schuth (ehrenamtliche Betreuerin), Reinhard.


Unsere Mutter und Großmutter wurde als Tochter eines kleinen Bauern in Klessengrund in Schlesien geboren. Sie war das neunte von zehn Kindern, alles Mädchen – mit Ausnahme des älteren Bruders Josef. 

Die Eltern Alfred Schubert und Anna, geborene Wachsmann, betrieben eine kleine Landwirtschaft an einem Ost-Hang im Tal der Klesse, ein kleiner Bach, der am südlich anschließenden Schneeberg entspringt, der höchsten Erhebung des Riesengebirges. Auf dem Hof wurden Milchkühe gehalten. Für den bescheidenen Ackerbau wurden Ochsen als Zugtiere eingesetzt. Pferde waren ungeeignet – das Gelände war zu steil. Deshalb musste auch ein großer Teil der Ernte mit dem Schlitten eingebracht werden. Insgesamt bestanden also keine guten Voraussetzungen, um eine große Familie zu ernähren. 

Trotzdem gab es nicht das Bewusstsein, gemeinsam ein schweres Schicksal tragen zu müssen. Das Leben war eingebettet im christlich-katholischen Glauben. Die Regeln der Kirche waren bestimmend, niemand stellte sie infrage. Kirchliche Feste und Feiertage waren die Höhepunkte im Ablauf des Jahres. Dazu gehörte die Kirchweih als Feier des Erntedanks. Ein Ritual der Familie war der Besuch der Christmette zu Weihnachten im Nachbarort Wilhelmstal. Man brach um 23.00 Uhr auf; Der Rückweg auf Skiern war erst um 1.30 Uhr in der Nacht geschafft. Dies sind Erinnerungen, über die Magdalena Damerow – unsere Muttel – noch am Ende ihres Lebens sprach. 

Muttel war schon in der örtlichen Schule – unter der Aufsicht des für die Vermittlung christlicher Werte berühmten Lehrers Beitlich – als 1928 die dörfliche Gemeinschaft in Klessengrund Zuwachs bekam: Fritz Damerow übernahm die Heimleitung der "Bärenklause". Dies war ein Erholungsheim des Reichsbundes für Leibesübungen – ein im Vergleich zu den umliegenden Gehöften stattliches Gebäude direkt an der Klesse, am Fuß des Hangs, der vom Bauern Schubert bewirtschaftet wurde. 

Mit ihren acht Jahren wird die kleine Magdalena den neuen Heimleiter kaum zur Kenntnis genommen haben. Er war mit seinen 35 Jahren schon ein gestandener Mann, Jahrgang 1893. Geboren in Hinterpommern als Sohn eines Stellmachers auf einem großen Gut, ging er mit 14 Jahren zur Marine. Nach vielen Auslandsreisen auf diversen Kriegsschiffen und aktiver Teilnahme am Ersten Weltkrieg, hatte er es bis zum Stabs-Oberbootsmann gebracht. Als Berufssoldat teilte er das Schicksal vieler nach dem verlorenen Krieg: Im Zuge der Reduzierung der deutschen Streitkräfte auf 100.000 Mann wurde er entlassen. Nach 15 Jahren Marine musste er sich eine andere Existenz-Basis suchen. Nach vier Jahren als Schwimmlehrer hatte er Glück: Freunde, die sich um alte Soldaten kümmerten, vermittelten ihm den Job in Klessengrund. 

Die junge Magdalena arbeitete nicht nur in der Landwirtschaft des Vaters mit. Daneben machte sie sich zunehmend in der benachbarten "Bärenklause" nützlich. Der Altersabstand zum Heimleiter Fritz Damerow war mit fast 28 Jahren so groß, dass zunächst eher eine väterliche Beziehung unterstellt werden kann. Der Heimleiter war evangelisch und auf Abstand bedacht zum katholischen Establishment, besonders zum Lehrer Beitlich. Trotz des zivilen Jobs war Fritz Damerow unverkennbar der alte Berufssoldat, den die lokale Jagd weit mehr als die Bärenklause interessierte. Er war Mitglied der kleinen Oberklasse am Ort, gemeinsam zum Beispiel mit einer flotten Berlinerin – Frau Bläuler –, die ein Lokal betrieb oder dem Himbeersaft-Fabrikanten Völkel. 

Über die Jahre hinweg muss eine Beziehung gewachsen sein zwischen der jungen Magdalena und dem „alten Fritz“, der wohl generell recht wenig mit Frauen am Hut hatte – schon in seiner aktiven Militärzeit, aus Gründen, die undurchsichtig sind. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges ist Magdalena zur jungen Frau geworden, deren Mitarbeit in der "Bärenklause" nicht mehr wegzudenken war. Der neue Krieg war für den alten Soldaten die Chance, sein altes Handwerk wieder auszuüben: Fritz Damerow meldete sich freiwillig zum Dienst in der Marine zurück. Nach einiger Zeit muss er es wohl geschafft haben: Er wurde Ausbilder in der Unterseeboot-Ausbildungs-Abteilung in Neustatt/Holstein. Die Leitung der "Bärenklause" übernahm komplett Magdalena Schubert. 

Wie wohl häufig im Krieg, die Trennung wurde verbunden mit dem Versprechen, zu heiraten. Dieses Versprechen wurde im November 1944 vollzogen und postwendend kam es zur Geburt von Karlheinz im Januar 1945. 

Männliche Unterstützung war weit weg, bedingt durch den Krieg, und die russischen Truppen standen schon fast vor der Tür, nachdem Breslauf schon eingekesselt war. Die Hochschwangere wurde mit Pferdeschlitten nach Habelschwerdt zu Dr. Wotsak gebracht. Ein Myom machte einen Kaiserschnitt erforderlich. Die Rückreise erfolgte wieder mit Pferdeschlitten, der aber keine Bremse hatte. Deshalb packte die junge Mutter das Baby in Bad Landek und lief zu Fuß nach Hause. 

Knapp 15 Monate später, im April 1946, wurde die deutsche Bevölkerung auch aus Klessengrund vertrieben. Die Erlaubnis, etwas mitzunehmen, war darauf beschränkt, was auf dem Rücken transportiert werden konnte. Die junge Mutter packte anstelle einer Matratze Babysachen in den Kinderwagen. Nach dreitägiger Fahrt im Viehwaggon war die Vertreibung für Magdalena Damerow in Syke/Niedersachsen beendet. 

Mutter und kleiner Sohn wurden von den Behörden bei der Familie Peters im Karrenbruch untergebracht, einige Kilometer östlich von Bassum, auf dem platten Land in einem einzeln stehenden Haus. Kurze Zeit später erschien der Vater. Fritz Damerow war nahe Neustatt/Holstein in britische Kriegs-Gefangenschaft geraten. Wohl wegen seines fortgeschrittenen Alters wurde er schnell entlassen. Als Entlassungs-Adresse hatte er Langenselbold bei Hanau angegeben, wo die Familie eines Kameraden wohnte. Deshalb konnte er beim ersten Besuch im Karrenbruch nur acht Tage bleiben – genug Zeit, um nach den Worten der Muttel „Reinhard dazulassen“. Sechs bis acht Wochen später konnte Vatel endgültig nach Norddeutschland kommen. 

Muttel hatte 4.000 Reichsmark aus dem Klessengrund mitgenommen. Dieses Geld „hielt uns über Wasser“ (Zitat Muttel). Trotzdem war der Hunger ein ständiger Begleiter. Vorwürfe von Peters, die Flüchtlinge hätten geklaut, kamen hinzu. Die Aufregung darüber hatte die vorzeitige Geburt von Reinhard zur Konsequenz. Er wurde nach acht Monaten im Krankenhaus in Bassum geboren. Muttel musste den Weg zu Fuß zurücklegen. 

In kurzer zeitlicher Abfolge zog die Familie um: Von Peters zu Beckmann im Karrenbruch, dann zu Hillebold in Eschenhausen und schließlich zu Schmidt, ebenfalls Eschenhausen. Vatel bemühte sich, Renten- und/oder Pensions-Ansprüche durchzusetzen. Das zog sich jahrelang hin. Ich kann mich noch an häufige Fahrten von Vatel in die Kreisstadt Syke erinnern, um irgendwelche Nachweise zu erbringen. 

Inzwischen musste die Familie ernährt werden. Großzügig war die eingesessene Bevölkerung den mittellosen Flüchtlingen gegenüber nicht. Ein demütigender Ausspruch eines Bauern gegenüber der bettelnden Mutter mit Kleinkind wurde in der Familie noch viele Jahre danach zitiert: „Wie hebbt nix. Wie hebbt nich mol nouch for’t Veih“ (Wir haben nicht mal genug für das Vieh – die Flüchtlinge kamen in der Einschätzung der Bauern erst nach dem Vieh). 

Um das Überleben der Familie sicherzustellen, musste Vatel im Alter von inzwischen mehr als fünfzig Jahren das erste Mal in seinem Leben schwer körperlich arbeiten: Sechs Tage in der Woche als Knecht oder Hilfskraft in der Landwirtschaft, davon jeweils drei Tage bei den Bauern Lindloge und Krupp. Anfang der 50er Jahre hat sich daraus ein exklusives Verhältnis mit Lindloges entwickelt. Bei Bedarf und insbesondere zu Erntezeiten stand die gesamte Familie Damerow einschließlich Kinder dem Bauern zur Verfügung. Fritz Damerow natürlich permanent – eine moderne Version der Leibeigenschaft. 

Die Verantwortung für die Haushaltsführung und die Verwendung der knappen Ressourcen hatte Muttel ganz überwiegend allein. Vatel als neugebackener Familienvater war bemüht, seine neue Rolle kooperativ auszufüllen. Seine Grenzen konnte er aber nie ganz überwinden. Ein langes Junggesellen- und Soldatenleben prägten ihn bis zuletzt. Aber er kämpfte unverdrossen gemeinsam mit allen Familienmitgliedern für das Überleben. Eine eigene Ziege "Lotte" lieferte die Milch. Fast jedes Jahr wurde ein Schwein gemästet, immer mit dem Namen „Macker“. Zu den frühen Kindheits-Erinnerungen gehören gemeinsame Expeditionen der gesamten Familie auf abgeernteten Kornfeldern und Steckrübenäckern. Die eingesammelten Ähren wurden in der Windmühle gegen Mehl getauscht, die Rüben gingen direkt an das häusliche Mastschwein. 

Muttel hat die Rolle als Hausfrau und zeitweilige landwirtschaftliche Hilfsarbeiterin stets ohne Klagen, aber eigentlich nie wirklich guten Mutes gespielt. Zum Beispiel glaubte sie, kochen nicht gelernt zu haben. Deshalb kochte sie nicht gern. Die Familie hat darunter nicht gelitten. Was das schmale Budget hergab, wurde so effizient verwendet, dass die Kinder ohne Mangelerscheinungen aufwachsen konnten.

Muttel mit einer Lotte

Diese Leistung der Eltern kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. 

Ebenfalls entscheidend waren die Weichen-Stellungen der Eltern für die Schul-Ausbildung der Kinder. Beide Eltern hatten „nur“ die Volksschule besucht. Der Vater wusste, dass ihm deshalb als Berufssoldat die Offiziersränge verschlossen geblieben waren. Obwohl die Söhne nicht unter Druck gesetzt wurden, waren die Eltern nie zufrieden mit der lokalen Volksschule und dem Lehrer König. Das Ergebnis war, dass Karlheinz als erster Schüler in der Geschichte der Volksschule auf die Mittelschule in Bassum überwechselte. Reinhard folgte zwei Jahre später gemeinsam mit einer Bauerntochter als Wechselschüler Nummer 2 und 3. 

Die enge Verbindung zu Lindloge, die bescheidenen Wohnverhältnisse und die mäßigen Voraussetzungen für die Schul- und Berufsausbildung der Kinder waren wohl die Gründe für einen radikalen Neuanfang: Umzug der Familie von Eschenhausen bei Bassum nach Trossingen in Baden-Württemberg im Jahr 1957. Für Muttel war es der zweite Verlust der Heimat in ihrem Leben. Nach 11 Jahren war aus der freundlichen Umgebung das vertraute Nest geworden. Obwohl Muttel fast den gesamten Rest ihres Lebens, noch fast 46 Jahre in Trossingen verbringen sollte, ist ihr das Schwabenland nie zur dritten Heimat geworden. 

Zitat Muttel: „Nach dem Umzug habe ich eine Woche lang vor Heimweh nach Norddeutschland die Kissen nassgeheult. Vatel machte der Umzug nichts aus. Er hatte Arbeit (in der damals noch bestehenden kleinen lokalen Molkerei), ich durfte nicht arbeiten wegen der Kinder.“

Die Vertreibung und der Verlust des Besitzes war tief in den Köpfen der Muttel/Vatel-Generation eingegraben. Neuer Besitz musste aufgebaut werden, auch wenn dafür schwere Opfer zu bringen waren. Die Doppelhaushälfte in der Langwiesen-Siedlung in Trossingen, in der die Familie 1957 eingezogen war, wurde Anfang der 60er Jahre gekauft – mit wenig gespartem Eigenkapital und großen Schulden, die über Jahrzehnte abbezahlt wurden. 

... ... ... 

Mit einer Trauerrede in dieser Ausführlichkeit hätte ich wohl jede Trauergemeinde frustriert und abgehängt. Was in der echten Rede nur skizziert worden wäre, ist hier etwas breiter, aber längst nicht umfassend ausformuliert. Der Grund: Die erste Lebenshälfte der Muttel verdient eine etwas genauere Beschreibung. Die lang zurückliegenden Ereignisse sind nicht mehr so genau abgespeichert in den Köpfen der nachfolgenden Generation. Außerdem war die erste Lebenshälfte die spannende Zeit des Überlebens und Gestaltens trotz widriger Umstände. Die zweite Lebenshälfte ist dagegen gekennzeichnet durch Verlust, Vereinsamung und am Ende, Tod. Muttels zweite Lebenshälfte soll nur in großen Schritten rekapituliert werden. 

Nacheinander verabschiedeten sich die Kinder aus Trossingen: Karlheinz begann nach dem Abitur im Jahr 1964 sein Studium in Köln, Reinhard folgte 1966 mit seinem Wegzug nach Berlin. In der Zeit danach war Muttel weiterhin der Mittelpunkt der Familie. Sie versorgte den alternden Vater und hielt das Nest warm, in dem sich die Familie mindestens einmal im Jahr zu Weihnachten traf. 

Lungenkrebs beendete das Leben des Vaters im Jahr 1967. Muttel pflegte ihn bis zuletzt zu Hause. Dies war der Beginn der Resignation – im Alter von 46 Jahren: Zweimal die Heimat verloren, ohne eigene Ausbildung keine eigenen Berufschancen jenseits des Hausfrauenjobs, Familie zerstreut, Mann gestorben. 

Einige Versuche der Muttel folgten, sich in das Arbeitsleben zu integrieren. Sie arbeitete im Bürgerheim – dem Trossinger Altersheim, sie half Frau Angele in ihrer Praxis für Physiotherapie und schließlich hat sie die Trossinger Filiale eines Reinigungs-Unternehmens betreut. Warum diese Versuche nicht von langer Dauer waren, ist nicht rekonstruierbar. Der beginnende Eigensinn dürfte eine Rolle in der jeweiligen Zusammenarbeit gespielt haben. Dieser Eigensinn entwickelte sich über die Jahre hinweg in Richtung auf Starrsinn und führte zu zunehmender Vereinsamung. Niemand war da, der diesen Prozess durch Zuwendung aufgehalten hätte, auch und insbesondere nicht die Kinder. 

Nachdem die Enkel Hans Christian im Juni 1981 und Sabine im Juli 1983 geboren waren, solle Muttel als Kinder Betreuerin in Frankfurt engagiert werden. Der Versuch kam nicht weit über die Konzeptions-Phase hinaus. Muttel war schon in Frankfurt, aber die latente Ablehnung durch die Schwiegertochter, gepaart mit dem eigenen Starrsinn, waren genug, um nach ein oder zwei Tagen die Flucht zurück nach Trossingen zu ergreifen. Damit war die letzte Chance vertan, die verbleibenden Jahre integriert in der eigenen Familie zu verbringen. 

Es folgten die Stationen des körperlichen und später des geistigen Verfalls. 

Etwa im Jahr 1990 erlitt Muttel einen Schlaganfall, verbunden mit einer Beeinträchtigung des Sprachvermögens. Medizinische Hilfe stabilisierte den Zustand. Den Rat einer Verwandten, sich „zu wehren“, bezog Muttel allerdings auf ihre Kooperation beim Sprachtraining – mit dem Ergebnis, dass ihre Kommunikations-Fähigkeit und –Willigkeit immer weiter zurückgingen. 

Betreuung und Versorgung der Muttel übernahm zehn Jahre lang die Nachbarsfamilie Dettge. Damit war zwar eine teure Heimbetreuung entbehrlich, allerdings entschwanden Renten- und Pflege-Versicherungs-Bezüge sowie Ersparnisse in beachtlicher Höhe, ohne dass die Qualität der Pflege gesichert gewesen wäre. Im Jahr 2000, als die Nachbarschafts-Betreuung beendet werden musste, befand sich Muttel in einem verwahrlosten Zustand. 

2000 war das Jahr der Weichenstellung für die letzte Wegstrecke: Eine gesetzliche Betreuerin – Frau Rebstock/Tuttlingen – übernahm die Verantwortung für die Muttel. Ab Mitte des Jahres lautete ihre neue und letzte Adresse: „Seniorenresidenz am Kaiserring“ in Villingen. Dort zog sie mit nicht viel mehr als einem Koffer ein. Der Rest des Haushalts im Zeisigweg in Trossingen wurde aufgelöst, das Haus fand im Mai 2001 neue Eigentümer. Der Erlös trug dazu bei, dass sich aus der Heimpflege keine materiellen Belastungen für die Söhne ergaben. 

Das Heim in Villingen als letzte Station auf dem Lebensweg. Die freundliche Atmosphäre und den relativ guten Standard hat die Muttel wahrscheinlich kaum wahrgenommen. Ziemlich bald war sie fest an das Bett gebunden und wurde künstlich ernährt. Im Frühjahr 2003 musste die Frage nach lebensverlängernden Maßnahmen mit dem behandelnden Arzt diskutiert werden. 

Noch Anfang Juli 2003 konnte eine beginnende Lungenentzündung wieder unter Kontrolle gebracht werden. Im August half nichts mehr gegen ein Lungenödem. 

Am Mittwoch, 6. August 2003, um null Uhr dreißig starb Magdalena Damerow.

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Magdalena Damerow ist 82 Jahre alt geworden. Dies entspricht etwa der heutigen mittleren, also durchschnittlichen Lebenserwartung von Frauen in Deutschland.

War dies das durchschnittliche Schicksal einer Frau ihrer Generation? 

Magdalena Damerow hatte keine großen Chancen im Leben. Sie hatte kein großes Glück. Ihren Mann hat sie sicher zunächst geliebt. Daraus ist später Achtung und Respekt geworden. Die Söhne haben sich als nicht sehr anhänglich erwiesen. Der Lebensstil war immer durch Sparsamkeit geprägt. Dass der katholische Glaube bis zum Schluss Trost und Leitlinie war, kann man vermuten. 

Wenn ich heute an die Muttel denke, kommen mir Bilder in den Sinn. 

Das früheste Bild stammt vom Beginn der 50er Jahre. Unerwartet ist Geld ins Haus gekommen, einige 100-Mark-Scheine als Hausratshilfe oder Lastenausgleich. Muttel sitzt am Tisch und weint. Das tägliche Überleben mit fast nichts hat zu stark kontrastiert mit dem plötzlichen Geldsegen. 

Das zweite Bild ist etwa 1955/56 entstanden, am westlichen Rand des Wäldchens hinter dem Haus von Schmidt in Eschenhausen, in dem wir wohnten. Muttel schaut nach den Söhnen, die in den Bäumen spielten: Sie schaukeln mit dem ganzen Körper, an Ästen in den Kniekehlen hängend. Ängstliches Lachen der Muttel, aber keine Verbote. 

1963 oder 1964, erster und einziger gemeinsamer Urlaub der gesamten Familie in Pelzerhaken bei Neustadt an der Ostsee. Muttel, fröhlich am Strand und als Nichtschwimmer sogar im Wasser. Wenig später aber war sie tief verletzt, als Vatel einen alten Marine-Kameraden mit Frau ohne sie besuchte. 

Muttel bei der Beerdigung  von Vatel im Sommer 1967. Die Last der Pflege hatte Muttel viele Monate lang allein getragen. Ihre Hände zitterten unaufhörlich. Die Trauergemeinde war beachtlich, einschließlich Verwandte und befreundete Schlesier. Beeindruckend trotz allem die Würde und Gelassenheit der Muttel. 

Die letzten Bilder von Muttel in den Monaten vor ihrem Tod, festgenagelt in ihrem Bett im Pflegeheim. Das Gesicht entstellt, fast schon zur Totenmaske erstarrt. Die Augen konnten nichts mehr erfassen.

War dies das würdige Ende eines Lebens? 

Ich werde immer mit beiden leben, den freundlichen und den schrecklichen Bildern der Muttel. Langsam werden die schrecklichen Bilder vom Lebensende in den Hintergrund treten. 

Bleiben werden die Bilder einer Frau, die sich dem Leben in schwieriger Zeit gestellt hat, ohne jemals zu verzweifeln.

 

Muttel, Reinhard, Karlheinz, 1947

Muttel, wir werden Dich, unsere Mutter, in guter Erinnerung behalten. 

Dein Reinhard,
Dein Karlheinz

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