••BLÖÖK
05. 03. 2019


Ferrari? - Neee!!!
400 gebrauchte R 4

Exzerpt des Artikels:
Hell's Kitchen
Crazy Horse
Süddeutsche Zeitung,
15. Februar 2019

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Erwachen aus der Seligkeit des Unwissens

HELL’S KITCHEN

Crazy Horse

von CHRISTIAN ZASCHKE

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Seit Tagen läuft in meiner Wohnung Musik von Neil Young, was zumindest indirekt mit dem Ausblick vom Balkon zu tun hat. Ich habe im New Yorker Stadtteil Hell's Kitchen in einem ehemaligen Schwesternwohnheim eine bescheidene Bleibe gefunden, mit der ich sehr zufrieden bin, obwohl sie ein paar Nachteile hat. Zum Beispiel läuft die Heizung nur in den Aggregatzuständen "Hochofen" und "Aus". Selbst wenn es draußen minus 20 Grad hat, wird es in der Wohnung so heiß, dass ich fortwährend fürchte, die überall herumliegenden Zeitungen und Magazine könnten sich selbst entzünden.

Unser Hausmeister Giovanni Colon, dessen Name sich, je nachdem, wie man gerade auf ihn zu sprechen ist, mit Johannes "Doppelpunkt" oder Johannes "Dickdarm" übersetzen lässt, empfiehlt, entweder nicht zu heizen und was Warmes anzuziehen oder einfach die Balkontür aufzulassen, damit die Hitze entweichen kann. Für letztgenannte Strategie spricht, dass die Heizkosten in der Miete mit drin sind.

Welches Auto ich mir für 400 000 Mark kaufen würde?
400 gebrauchte Renault 4

Von meinem Balkon hat man einen schönen Blick auf hohe Häuser, darunter ein fast fertiges, in dem ein Hedgefonds-Manager kürzlich ein Apartment für 238 Millionen Dollar erwarb. Nachdem ich in einer der überall herumliegenden Zeitungen von dem teuren Apartment gelesen hatte, dachte ich erstmals seit Jahrzehnten an meinen Jugendfreund M.. Als ich ein Teenager war, hatte M. erklärt, dass er sich, sobald er 400 000 Mark besitze, einen Ferrari kaufen werde. "Was für ein Auto würdest du dir für 400 000 Mark kaufen?", fragte er. Ich antwortete, dass ich 400 gebrauchte Renault 4 kaufen würde, und zwar alle in Grün. Vielleicht wusste er mehr über das Leben als ich. Vielleicht auch nicht.

Jedenfalls erinnerte ich mich, nachdem mir die Renault-Sache eingefallen war, auch daran, wie M. seinerzeit erzählt hatte, dass in vielen Liedern von Neil Young ein Indianer namens Crazy Horse Gitarre spiele, der nicht mal Noten lesen könne. Ich war beeindruckt. Als wenig später mein Vater eine Platte von "Neil Young and Crazy Horse" auflegte, merkte ich beiläufig an, dass dieser Indianer ein wirklich guter Gitarrist sei. Mein Vater sah mich verständnislos an. "Na, Crazy Horse, der Indianer, der nicht mal Noten lesen kann", sagte ich. Mein Vater grinste.

Nie werde ich den Tag vergessen, an dem ich Jahre später in einem der überall in unserer Wohnung herumliegenden Magazine zufällig las, dass Crazy Horse der Name der Band des wirklich guten Gitarristen Neil Young war. M. hatte den Indianer, der nicht mal Noten lesen konnte, schlicht erfunden.

Wenn ich in diesen Tagen aus meiner Renault-Wohnung durch die offene Balkontür auf die Ferrari-Wohnung blicke und dabei die alten Platten höre, spüre ich sie erneut, diese ewige Mischung aus Freude und Schmerz, die es bedeutet, hin und wieder aus der Seligkeit des Unwissens zu erwachen.

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