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11.4

Eschenhausen gegen Schorlingborstel

DAS Schul-Fußballspiel

Auch außerhalb der amtlichen Unterrichts-Stunden konnte eine Zwergschule der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts Glanzlichter und Erlebnisspitzen kreieren, die locker alle Klischees einer Jugend auf dem Land in dumpf dämmernder, provinzieller Langeweile zwischen Misthaufen, Schweinestall und Rübenacker mit Links ad adsurdum führen.

Eine davon ist die folgende.

Es war wohl gegen Ende des Sommers 1953, ich wahr acht und im dritten Schuljahr, als ein paar ältere Jungen mich fragten, ob ich bei einem Fußballspiel Eschenhausen gegen Schorlingborstel mitmachen würde. 

Eigentlich hätte mich das schwer wundern sollen, denn die älteren Jungs – von den unnahbaren älteren Mädchen ganz zu schweigen – hatten sonst eher weniger, eigentlich gar nichts mit uns jüngerem Gemüse am Hut. Schon ein Jahr mehr oder weniger bedeuten in diesem Alter ja – wie auch heute noch – getrennte Welten.

Was der Anlass war und wen von den meinungsführenden Älteren es zu einer Verabredung eines schulinternen Dorf-gegen-Dorf-Wettkampfs bewogen hat, war mir in meinem zartdoofen Alter natürlich kein schlichter Gedanke.

Wenn ich es mir fünfzig Jahre später richtig überlege, bleibt eigentlich nur: Es muss die Anrufung eines Gottesurteils gewesen sein, nach dem Motto: „Fußball, Fußball am Weide-Rand, wer ist der Größte "..." im ganzen Eschenhausener und Schorlingborsteler Land?“ 

Die Gründe, die mich bewegt haben könnten, dabei mitzumachen, lagen mit Sicherheit nicht im Bereich meiner fußball-sportlichen Fertigkeiten. Die wären eher in höheren Regionen, etwa dem Erklettern von Bäumen, oder in niederen, im Stauen von Bächen und Fangen von Stichlingen zu suchen gewesen. Hatte ich doch - meines Wissens, ganz ehrlich - noch nie „richtig“ Fußball gespielt. Für einen Jungen, "sogar" Mädchen in dem Alter heute nur schwer vorstellbar.

Aber, in einem Streudorf wohnten wir so weit von den nächsten Kindern entfernt, die außerhalb der Schulzeit mit uns hätten Fußball spielen wollen, und selbst ein Jahr vor dem „Wunder von Bern“ war das nationale Fußball-Virus noch längst kein epidemischer Gedanke.

Auch waren Helma und Renate, unsere direkten Nachbarn, noch Jahrzehnte entfernt vom schieren gotteslästerlichen Gedanken an Frauenfußball und damit Welten entfernt davon, potenzielle Trainingspartnerinnen in diesem Sport zu sein.

Hier war den Pausen Fußball Platz.
Klick vergrößert.

Auch die Pausen-Fußballspiele auf dem Schulhof fanden regelmäßig ohne den Kallemann statt, was seinen Trainingszustand verständlicher Weise kaum von den Regionen um die absolute Talsohle herum veränderte, ebenso folglich seinen Wert auf dem Transfermarkt – ein typischer Teufelskreis also. 

Angesichts dieser Analyse hätte mir das Angebot, bei dem Spiel mitzumachen, nüchtern betrachtet, zum zweiten Mal äußerst verdächtig erscheinen müssen. Aber sehr wahrscheinlich war es das schmeichelnde Gefühl, gebraucht zu werden, das man mir verführerisch nahe legte und das mich nicht zum letzten Mal in meinem Leben narzisstisch korrumpieren sollte. 

Wie auch immer: Wer sich ein wenig mit der Bildung von Fußball-Mannschaften auskennt, der weiß, dass am Ende nur der im Tor steht, der nicht sofort und möglichst unmissverständlich klarmacht, dass das nur über seine Leiche geht, der bei der Wahl des Torwarts nicht wie der Blitz reiß aus genommen hat, oder der leidensbereit genug war, als Letzter aller Mitspiel-Willigen übrig zu bleiben.

Nun hätte man mich auch fragen können, ob ich lieber links oder rechts angreifen, vorstoppen, innenverteidigen, Abseitsfallensteller sein (ach, so was Doofes gab's damals ja noch garnicht), oder was auch immer gewollt hätte, ich hätte auch das nicht gewusst.

Also sagte ich logischer Weise „Ja, klar“, und wir trafen uns auf einer holprigen Rinderweide, an deren beiden Enden je zwei, einigermaßen gerade Äste in gewissem Abstand in den Boden gerammt wurden.

Im Umkreis eines dieser beiden Stangen-Paare hielt ich mich für die Dauer des wahrhaft denkwürdigen Fußballspiels Schorlingborstel gegen Eschenhausen auf. Meine Haupttätigkeit, ehrlicher Weise die einzige, bestand darin, teilweise unter beträchtlichen Mühen, den Ball im Bach, der hinter meinem Tor verlief, oder im angrenzenden Gebüsch wieder zu finden.

Angesichts fehlender Torbegrenzungen nach oben (Querlatten), gingen die Meinungen über den jeweiligen Torestand bei Zuschauern wie Wettkämpfern beträchtlich auseinander. Dass er für unsere Mannschaft, Eschenhausen, NULL lautete, war allerdings ohne Zweifel; Unseren Athleten war es in der gesamten Spielzeit nicht einmal gelungen, das Spielgerät auch nur in die Nähe des gegnerischen Kollegen, geschweige denn – auch noch so zweifelhaft regelgerecht – mit vollem Umfang über dessen Torlinie zu wuchten. 

Apropos Regeln: An einen Schiedsrichter, welcher Art auch immer, kann ich mich gar nicht mehr erinnern! Um so mehr allerdings an sehr viel Hochachtung dafür, dass nach Ende des edlen Wettstreits alle Teilnehmer die Kampfstätte körperlich plus minus unversehrt verließen.

Die höchsten Schätzungen des Spielstandes für unsere Gegner aus Schorlingborstel lauteten auf einundzwanzig – glaube ich... 

Das wirklich Beste, was ich über die charakterlichen Qualitäten meiner Eschenhauser Mannschaft sagen kann, ist, dass ich mich an keine Form körperlicher Züchtigung, oder, über ein vertretbares Maß der verständlichen Enttäuschung geschuldeter, herabsetzender verbaler Auslassungen erinnern muss... Kurz, ich wurde weder verprügelt, noch übermäßig angemacht. Auch alle "modernen" Menschen 2.0, die nun etwa hämische Danksagungen von Seiten der siegreichen Schorlingborstler vermuten, kann ich reinen Herzens enttäuschen.

Vielleicht lag das aber auch daran, dass "unsere" Niederlage, die der Fußballer von Eschenhausen, einen grandiosen Sieg der "anderen", der tollen Fußballer von Schorlingborstel erst möglich gemacht hatte und dass die Sieger ja schließlich alle auch Schüler UNSERER Schule waren. Wenn man also richtig überlegt, hatten wir eigentlich gar "nicht nur verloren" - und Schorlingborstel hatte gar "nicht nur gewonnen". Irgendwie hatten alle, die einen etwas mehr, aber die anderen auch ein bisschen gewonnen.

Mit einem Sieg menschlich umzugehen, ist nicht in jedem Fall und nicht für jede Persönlichkeit einfach, aber doch viel einfacher, als zu verlieren. Und in einer Zeit, wo es viele gibt, die der seltsamen Meinung sind, dass der Zweite der erste Verlierer sei, leuchtet es wohl selbst denen ein, dass es schon aus statistischen Gründen gesellschaftlich viel wichtiger ist, das Verlieren "richtig" zu lernen. Denn aus dieser Perspektive gibt es immer nur einen Sieger, ALLE anderen sind Verlierer.

So, wie wir mit unserer Niederlage umgegangen sind, war das, finde ich besonders im Nachhinein, schon fast vorbildlich. Und das war dann eigentlich so was wie ein "richtiger" Sieg! Nicht einer, der besiegte Menschen, gedemütigte Verlierer zurücklässt, sondern demütige zweite Sieger mit einem ganz besonderen Glück, ganz tief drin in uns.

Wer dieser Dialektik folgen kann, hat einen kleinen Zipfel des Glücks meiner Kindheit in Eschenhausen in der Hand.

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P.s.: Das Ergebnis: „Schorlingborstel gegen  Eschenhausen: 21 zu 0, oder so ähnlich“, findet sich, so viel ich weiß, in keiner Dorf-Chronik wieder, zu mindestens nicht in der von Eschenhausen. Warum eigentlich?


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