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02
Eschenhausen 23
Schmidts Wald

Eschenhausen 23, Elke

Ich hatte mich telefonisch mit Herbert Schmidt für Samstagnachmittag zum Kaffee verabredet. Freitagabend konnte also noch keine schickliche Audienz-Zeit sein. Da sich hinter den Fensterscheiben des inzwischen vollständig verklinkerten Hauses und auch sonst nichts rührte, blieb es beim Staunen über eine gärtnerische Umrahmung an dessen Nordseite mit Rhododendren und Co. Hier sind mir nur zwei alte Bäume in Erinnerung.

Da, wo vor fünfzig Jahren der Zaun einer Kuhweide den Weg an Haus und Stall vorbei zum kleinen Wald dahinter begrenzte, ragt heute die „Pest des Landes“, Mais, übermannshoch empor und versperrt den Blick zur Osterbinder Straße. 

Wir haben noch Zeit bis zum Einchecken bei Pankallas in Neubruchhausen. Also kann es ja nicht schaden, „unseren“ Wald schon mal allein, auch ohne Herbert, in Augenschein zu nehmen. Für viele Jahre war dieses Wäldchen „unsere“ Welt, Reinhards und Kamals Spielplatz gewesen. 

"Kamal" war übrigens mein erster Name, den Reinhard generiert hatte, um seinem Stimmbildungsapparat in feinfühliger Rücksichtnahme die vokalen Zumutungen von „Ka“ – „Arrl“ – „Hei“ – „Ntsss“ – und das auch noch ohne Pausen hintereinander – zu ersparen. Kallemann kam dann später mit zunehmender phonetischer, wie den Sprachschatz unserer Eltern erweiternder Kompetenz meines „kleinen Bruders“ hinzu. Wer mich kennt: Den Kallemann verwende ich gerne, wenn es die Urheberrechte Reinhards erlauben. 

Was sich schon auf dem Weg von der B51 über Osterbinde angekündigt hat, wird hier noch sinnfälliger und sollte sich über die gesamte Begegnung mit Eschenhausen weiter verstärken: Die topographischen Abmessungen meiner Erinnerungen stimmen zwar relativ, aber nicht absolut. Richtungen, Winkel sind unverändert, Häuser sind dagegen kleiner und Wege kürzer. Nur die Pflanzen, besonders die Bäume scheinen noch immer so beeindruckend groß zu sein. Einige, besonders die damals kleinen, sind mächtig gewachsen.

Macht nichts, stört in dem bekanntermaßen glorifizierenden und emotional weichspülenden Prozess, den Erinnertes beim Erinnern durchläuft, nicht die Bohne. Ganz im Gegenteil, Wege werden wie von Zauberhand, durch das Automobil noch beträchtlich unterstützt, altersgerechter, viel weniger anstrengend, und an ihrem Ende bleibt auch noch viel mehr Zeit übrig, als vor sechzig Jahren, wo sie Bar-Fuß oder per klapprigem Fahrrad zurückgelegt wurden. 

Der vordere Teil des Wäldchens kommt mir irgendwie verändert vor. Schmidts Schuppen war doch viel größer, oder ist er das überhaupt noch? Unser Holz-, Ziegen-Lotte- und Schweine-Macker-Schuppen ist nicht mehr da. Die Bäume, Buchen und Eichen von beachtlicher Statur, scheinen aber ganz die selben, beeindruckend. Auch der nach Südwesten das Wäldchen abschließende Erdwall ist noch da, wie das Wiesenstück dahinter zwischen der Eschenhäuser Beeke, die am südlichen Waldrand vorbeifließt (kann man eigentlich in diesen Septembertagen 2009 nicht sagen: vorbeisickert; Es ist sehr trocken) und ihrem Nebenbach von Norden aus Richtung Karrenbruch. K!

Elke macht Fotos mit der Canon, während ich mich mit dem Camcorder in Verlängerung des erwähnten Erdwalls durch ein Gestrüpp aus Brennnesseln, Disteln und Maisstangen am Ende des erwähnten Feldes arbeite, da wo ehemals das Südwestende der Kuh-Weide nördlich von Schmidts Haus war. Nun beherrscht hier ein gigantisches Schlehengebüsch den Raum zwischen Schmidts Wäldchen und der Karrenbrucher Beeke.

Warum zwängt sich eigentlich ein grauer Mitsechziger in dieses Dornengewirr hinein, tritt Teile des alten Weidenzauns nieder, schlängelt sich vorbei an einer ca. dreißigjährigen Eiche, deren Krone das Schlehengebüsch schon weit überragt, die also älter als dieses sein muss? Irgendwo hier, noch ein paar Meter weiter? muss meine alte „Geheim-Tresor-Eiche“ gestanden haben, deren schon damals hohles Innere „Schund- und Groschenheftchen“ vor Entdeckung und Zugriff durch die Eltern, vor allem die Muttel bewahrte.

Und tatsächlich, da, ein von Verrottung zernagtes Gerippe eines kapitalen Baumstumpfs. Das müssen die Reste meiner "Akim-, Prinz Eisenherz- und Beowulf-Heftchen-Tresor-Eiche" sein.

Danke, liebe Eiche, dass Du so lange auf mich gewartet hast. Nun magst Du gerne der längst zersetzten Zellulose der Schundheftchen folgen, die Du einmal in Deinem Inneren gehütet hast, in den ewigen Zirkus der Stoffe, vielleicht nicht nur in die Haarwurzeln der gierigen Schlehen. Sicher lebt auf diesem Weg schon ein Teil von Dir gemeinsam mit meiner Kindheits-"Literatur" in Deinem Eichenkind ein paar Meter nebenan weiter.

Eine seltsam berührende, wie bizarre, aber auch irgendwie bezaubernde Szene des Aufeinandertreffens von Menschen-Kindes-Erinnerung und Pflanzen-Kindes-Gegenwart. 

Unsere beiden „Gärten“ an den Enden des Erdwalls an Schmidts Wäldchen sind durch Birkenleichen und Farngestrüpp gnädig renaturiert. Im südlichen „Garten“ erinnere ich die erfolgreiche Wasserjagd nach einem kleinen Maulwurf, der irgendwann seine durch Beekewasser überflutete Wohnung verließ und mir so in die Hände fiel, der ich nichts näher liegenderes im Sinn hatten, ihn, am Stummelschwänzchen festgehalten, als verblüffend effektive Loch-Buddel-Maschine zu missbrauchen, bis er, nach wie vor quietschfidel und lebendig, wenn auch wohl mit leicht geknicktem Maulwurf Stolz wieder entwischte.

Über dem „Garten“ am Nordende erkenne ich noch die waagerechten Äste einer Buche, die wohl die Trapezstangen geliefert haben für die „Überraschung“ der Muttel. Mit: „Kuck mal, was wir können!“, ließen wir uns, in vier Meter Höhe auf einem Buchenast sitzend, beide rückwärts“fallen“, um, nur noch in den Kniekehlen hängend, fröhlich vor dem (hoffentlich gespielt!) entsetzten Gesicht der Muttel zu baumeln. Die fahrlässige Inkaufnahme eines Herzinfarkts der Mutter als Kinder-Spaß zu verzeihen, fällt selbst fünfzig Jahre später nicht ganz leicht...


Bilder:

Schmidts Wäldchen


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