Sonntag, 22. Mai 2011,

der Abend vor der Tour de Bohémien

Alle Vorbereitungen sind getroffen.
Die Tour de Fonntenois kann beginnen!

Wer sich bis hier her durch die "Umkleidekabine für Comtois-Kutschpferde" „gekämpft“ hat, wird bemerkt haben, dass ein Urlaub im Langsam-Mobil mit lebendem Motor schon vor seinem „eigentlichen“ Beginn alles andere als eine „All inclusive Premium“-Veranstaltung mit Rundum-Versorgung für passive, faule und f.... Urlaubs-Larven ist.

Um einen Teil der positiven Bilanz der noch vor uns liegenden Tage vorweg zu nehmen:

Uns erwartet ein Erlebnis, das intensives Mit-Tun voraussetzt.

"Gewusst wie" beim Umgang mit der vor-"auto (selbst?!)"mobilen Technik.

Aufmerksam verantwortungsvolles Tätig-Sein in ungewohnter Umgebung, Sprache und Gewerk über den ganzen Tag.

Füttern und Tränken des Pferdes.

So gut es eben geht, „mit dessen Augen sehen lernen“:
Schwarze, puma?große Gegenstände, Mülltonnen, Gartenarbeiter ... neben der Straße sind lebensbedrohlich! Ein großer Bogen darum herum ist Pflicht für das Fluchttier Pferd!
Noch viel unheimlicher sind enge “Hohle Baum-Gassen“, von deren Ästen sich erneut dort lauernde Pumas? herabstürzen könnten! Da hilft nur ein entschlossener Galopp, mindestens aber ein starker Trab. Ganz gleich, was der Kutscher für Töne von sich gibt, was er mit der albernen Leine veranstaltet und in welches Kleidungsstück er sein Herz fallen lässt ...

Vergraulen blutrünstiger Insekten.

Finden der Route zum Etappenziel.

Kommunikation mit 100 % neuzeitlichen Verkehrs- Teilnehmern. Wir erlebten fast ausnahmslos rücksichtsvolle und freundliche!, lachende Menschen ...,

... bis der Biomotor Pferd für die Nacht sicher auf einer Weide „geparkt“ ist.

Aber, sooo kompliziert, wie es nun vielleicht erschienen sein mag, ist Zigeunerwagen Fahren denn doch auch wieder nicht. Wenn man sich mit Begeisterung auf diesen ausgewachsenen Anachronismus 2.0 einlässt, kann gerade sein allerdings notwendiger "Überbau" das Elixier reinster geistiger Erholung sein.

Besonders für uns zwei Pensionisten war es ein erfrischendes Alternativ-Programm zur Struktur-Einfalt von Ruheständler-Tagen zwischen Bett, Klo, Küchentisch, Computer, Fernseher und zurück.

Zu allem Überfluss und als edle Dreingabe findet das Ganze auch noch in der Kulisse einer herrlichen Landschaft statt, die im Wandertempo vorbeizieht und uns mehr als genüsslich Zeit lässt, alle, gerade auch die kleinsten und unscheinbarsten Eindrücke zu „erfahren“, zu „begreifen“, mit allen Sinnen auf- und "wahr"zunehmen – einfach wunderbar.

Hätten wir’s nicht gemacht, wir müssten uns in den A.... gebissen haben!

Nach dieser, zugegeben, schon etwas - wenn, dann aber eu - stressenden Einführung in das archaische Handwerk des Kutschers, lassen wir uns im „Chez Colette“, dem Restaurant im ehemaligen Kuhstall der Station, ein leckeres Menü schmecken:

Schaffleisch mit Gratin, Salat und Dessert, zubereitet von Colette Grandgirard.

An jeder Station der Rundreise kann übrigens, wer möchte, diesen „Table d'Hôtes“ bestellen, ein individuell vom jeweiligen Gastgeber gestaltetes und meist (wenn es kein Restaurant ist) mit ihm gemeinsam eingenommenes Menü, zum Einheitspreis von 14 Euro. 

Ein kleiner Spaziergang durchs Dorf beschließt diesen ereignisreichen Tag. Fontenois-la-Ville ist eine Gemeinde, die in diesem Jahr den Titel „Villes et Villages Fleuris“ (Beblümte Städte und Dörfer) immerhin mit einer von drei Blumen/Sterne führen darf.

Um diese Auszeichnung erneut zu erhalten, diesmal vielleicht sogar mit zwei Blumen, bepflanzen Frauen schmale Beete zwischen Hauswänden, Grundstücksmauern und dem Bürgersteig mit unzähligen Blumen, die durch stationäre Tropf-Berieselungs(?)-Schläuche bewässert werden.

Ansonsten macht der Ort mit etwas über 150 Einwohnern einen verschlafen tagträumenden Eindruck, der mich an Jacques Tatis Film „Jour de fête“ („Tatis Schützenfest“) erinnert.

Francois et la "rapidité américaine"
Jacques Tati als Postmann in seinem Film:
"Jour de Fête" ("Tatis Schützenfest", 1942/47/49)

Über sechzig Jahre nach seiner Entstehung in der französischen Provinz gerät die Erinnerung an ihn aber leider nicht mehr so leichten Herzens, unschuldig verzaubernd, wie ihn sein Erzähler umrahmt, vielmehr mit unverhohlenen Zeichen des Niedergangs - fast jedes zweite Haus „ziert“ das Schild „à vendre“, zu verkaufen.

Der Durchreisende aus dem Billiglohn- Wirtschafts- Wunder- Deutsch- Land, der (noch?) nicht selber in gleicher Weise betroffen ist, "genießt" den morbiden Schauer, den das Echo ihrer letzten Bewohner noch immer deutlich vernehmbar durch die geschlossenen Jalousien über seinen Rücken laufen lässt.

Globale Arbeit"geber"-Nomaden, mit ihnen das profitgeile Kapital, wandern aus, dem Lohngefälle folgend. Hier fehlt das Geld zum Leben. Die Jungen haben keine beruflichen Perspektiven. Infrastruktur bricht weg. Landflucht.

Strukturwandel, das ewige Elend der Industriellen Revolution. Es müssten aber doch noch ein paar humane Ideen zu finden sein, sagt der Träumer. Vielleicht von der Art, der wir hierher gefolgt sind:

Nachhaltiger, langsamer Tourismus?!

Pas de rapiditée américaine!!.

Getragen von einer ganz neuen(?), mutigen Politik, die nicht mehr ausnahmslos und unverschämt die Betreiber immer intensiverer Landwirtschaft bevorzugt = subventioniert = deren kranke Gier nach Profit auch noch mit den sauer verdienten Steuergeldern derer bedient, die nie gefragt wurden, ob sie das auch wollen.

Eine neue, mutige Politik gegen einen turbo-kapitalistischen, neo-"liberalen", absolut unsymmetrischen Verdrängungs-"Wettbewerb", in dem immer größere Maschinen immer mehr Menschen lebenserhaltende Arbeit stehlen, der Wenige (Aktionäre, Schärhoulder, mit dem Geld fremder Menschen zockende Bänker) immer unanständiger "reich" macht und Viele (die, wie üblich, die ganze Zeche auch noch treudoof bezahlen) aus einer lebens- und liebenswerten Welt vertreibt.

Eine wirklich moderne Politik 2.0, weg von der globalen Pest einer galoppierenden Industrialisierung und Verramschung der Produktion von Lebensmitteln, hin zur Erhaltung der Lebensgrundlagen für Menschen in einem Traum von Landschaft.

Wenn das nicht in irgend einer Art gelingen sollte, dann müssen "wir Menschen" doch wohl total plem-plem sein, oder?! 

Im Nachhall derartig beklemmender Eindrücke und Gedanken, vermischt mit der Sorge, ob morgen auch alles klappen wird, gelingen Ein- und Durchschlafen in unserem Planen-Wagen-Groß-Bett einem Viertel- und Stunden-Schlagwerk der Marke "Trompeten von Jericho" im Kirchturm gleich nebenan zum Trotz unerwartet problemlos, sogar voll erholsam.


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