DIE Reise zu RIO

Zauberland in Sicht...
...brennt immer noch

Ein Bericht von Elke und Karlheinz 


Donnerstag, 10. September 2009.

Diesmal ist keine pfadfinderische Spitzenleistung nötig. Heisterberg – Herborn und auf der A45 Richtung Dortmund bis zum Westhofener Kreuz. Ausfahrt 9, rechts auf die A1. Vor Hamburg, Buchholzer Dreieck, Ausfahrt 43 links auf die A261. Durch den Elbtunnel auf die A7. Ausfahrt 2, Flensburg, kurz vor der Dänischen Grenze. 23 Kilometer nach Westen auf der B199 Richtung Sylt und im Wald hinter Stadum, beim Schild „Rio Reiser Haus“ rechts, durch einen Golfplatz, nach Fresenhagen.

Drittes Haus rechts: Ein wetterfestes Schild weist in eine kurze, stattliche Allee, die uns, von der Nordseite her, zum kleinen Parkplatz vor einem beeindruckenden, weißen Hofgebäude unter bemoostem (Hoppla: Feuchtigkeit!) Reetdach führt.

Ein etwa 45 m langes Haupthaus in Ost-West-Richtung mit einem ca. 20 m langen, rechtwinkligen Anbau an seiner Nordseite, der etwa 5 m von der Mitte weg in Richtung Osten „verrutscht“ ist. Das ganze Gebäude von oben und von Norden gesehen, wie ein asymmetrisches T, mit verlängertem rechten „Dach“.

Die Pfosten eines welligen kleinen Holzzauns werden gerade mittels Kupferhütchen gegen fäulnisfördernde Bewässerung von oben geschützt. Wie wir später erfahren, durch den möglicherweise zukünftigen Verwalter des Rio Reiser Hauses in Begleitung seiner beiden braven Weimaraner Vorstehhunde.

Da, wo der nördliche Anbau auf die westliche, längere Hälfte des Langhauses trifft, führt eine Tür nach links zur Küche in den Anbau. Geradeaus die Haupt-Eingangstür ins Langhaus.

Hier, an einer kombinierten Tisch-Bank unter einer alten und entsprechend mächtigen Linde, begrüßen uns zwei männliche Gestalten, eine jüngere, Michael, etwa Ende dreißig, Anfang vierzig und eine in meiner, Kallemanns Altersklasse. Die beiden sollten sich erfolgreich um unser leibliches und seelisches Wohl kümmern. Der etwas „gereiftere“ stellte sich vor als Gert Möbius, der jüngere der beiden älteren Brüder von Rio Reiser. Mit ihm hatte ich schon am Montag telefoniert.

Er führte uns über den Mittelflur des Langhauses, mit steinernem Boden und fast ausschließlich sw(sehr schön!)-Rio-Bildern an den Wänden, in eine zweite kleine, eigentlich Fluchthalle, quer zum Langhaus, mit Fluchttüren an beiden Enden. Die Fluchttür aus diesem Querflur mit haushohem, eigenen Giebel nach Norden, die im Querflur hinter dem Haupteingang nach Süden.

Übrigens selbstverständlich, Rauchverbot in allen Teilen des Gebäudes – einzige Ausnahme: Die Küche. Von der Fluchthalle geht’s entweder direkt oder über einen weiteren Mittelgang zu den Gästezimmern, die das Parterre der östlichen, etwas kleineren Hälfte des Langhauses besiedeln.

Gert Möbius öffnet uns Gästezimmer Nr. „Lass uns ’n Wunder sein“, mit Blick nach Süden auf den Tabak-Trocken-Turm. Die Einrichtung, wie überhaupt die gesamte Gestaltung des Hausinneren, einfach, geschmackvoll, angenehm unaufdringlich. Das Kunststudium von Gert Möbius hat sich offensichtlich „gelohnt“.

Toilette mit Duschbad, dem Zimmer gegenüber, auf der anderen Seite der Fluchthalle, die sich mit stehendem Flügel, Fußballkicker, Bücherregal und natürlich sw-Rio-Bildern nahtlos in die stilvolle Linie des Hauses fügt, das übrigens, so weit wir es kennen lernten, in einem tollen Zustand ist.

Im gesamten Nordtrakt, mit der Küche nach Westen, dem geräumigen Frühstücksraum gegenüber und dem „Cafe Junimond“, das auch als kleiner Auftrittsort dient, bestehen alle Böden aus Marmor. Ein ehemaliger Hausbewohner (Lanrue?) hatte wohl mal, bei einem eigenen Hausprojekt in Spanien?Portugal? oder so, „ein klein wenig zu viel“ davon erstanden, wie Gert Möbius berichtete. Dieses „Klein wenig zu viel“ hier zu verbauen, war sicher kein schlechte Idee. 

Die Öffnungszeit des Museums ist zwar schon überschritten, aber Gert Möbius führt uns trotzdem hin: „Na klar!“, öffnet den Raum in der Baracke an der Südseite des Langhauses, neben dem Tabak-Trocken-Turm, startet einen kleinen DVD-man mit Rio- und Scherbenmusik, die uns länger als die Funktionsdauer des Camcorder-Akkus begleitete.

Eine Installation, gestaltet von Gert Möbius, die uns in einer Zeitreise von den Anfängen der Brüder Möbius in einem Wandertheater über „Ton, Steine Scherben“, Rios Solokarriere als "König von Deutschland" bis zu Reaktionen auf seinen Tod führt.

Ein dunkler Raum, dessen Wände rundum mit Vitrinen zugestellt sind, in denen vorwiegend schwarze Informationstafeln von oben angestrahlt werden. Kleine, zauberhafte Kunstwerke, die teils durch Knopfdruck, teils durch Lichtschranken in Bewegung versetzt werden.

Der „Schreiber“: Eine Schreibfeder bewegt sich krakelig über einige Handschriften Rios. Der „Phönix“: Ein Fabelvogel bewegt schnarrend Flügel und Kopf. Ein durch schwarze Stoffbahnen abgetrenntes Kabinett lenkt auf eine Seite Rios, die mit Kartenlegen und –lesen zu tun hatte.

Ein weiterer dunkler Teilraum mit Kino Sitz Reihe vor einer Videoleinwand ist gerade nicht in Funktion. In der Mitte des Raumes ein Billardtisch mit Lanrue und Rio als Pappkameraden in Lebensgröße daneben.

Rios Totenmaske auf einer Holz-Stele neben seiner Gitarre vor einem raumhohen Fenster, das das einzige natürliche Licht in den Raum lässt und einen Blick in den westlichen Teil des Gartens gestattet: Alte, in diesem Jahr schwer tragende Obstbäume gegen die Abendsonne um ein niedriges, weißes Zaungeviert herum, das Grab von Rio Reiser.

Alles in Allem eine gelungene Komposition von Inhalt, Form und Farbe, die eine eigenartig leichte, beruhigende, in sich ruhende, besinnliche, manchmal fast schon andächtige Stimmung erzeugt, die sich allerdings nicht nur an diesem Teil des Ortes „Fresenhagen 11“ einstellt. Eine beglückende Ausstrahlung in Harmonie mit der beinahe erschlagenden Stille dieser topfebenen nordfriesischen Landschaft.

Die Parole „Keine Macht für Niemand“, als Laubsägearbeit in der Eingangstür, leuchtet vor dem Verlassen des Museums noch einmal auf und hinerlässt auch nicht die Bohne einen Hauch von Polit-Krawall-Phantasien, den Agit-Rock-Lobbyisten libertär-sozialistischer Politzirkel damit wohl mal massenkompatibel zu generieren hofften, vielmehr unter dem Motto "Poesie statt Parolen", die souveräne Gewissheit einer ehernen philosophischen Wahrheit – wenn’s so was geben sollte... Wir reichen den Museumsschlüssel weiter an ein junges Paar mit Hund...

Eine große Ehre: „Wollt Ihr mit uns essen?!“ – Na klar, danke! - Ein sättigendes, leckeres Käsefondue, vom Herrn des Hauses zubereitet, mit Kostproben diverser lokaler Gerste-Brauerei-Produkte für Kallemann, Wein und Kaffee als gemeinsames Abendmahl aller momentanen Bewohner des Rio Reiser Hauses; Der Mitschnitt einer sat3?/Arte?/WDR-Sendung über Rio und die Scherben, auf dem Laptop des künftigen Verwalters, schaffen angenehme Bettschwere und lassen einen durch und durch begeisternden Tag in die Nacht gleiten, unter der Überschrift:

"Unterwegs zu Rio".

Die Nacht in guten Betten „gelingt“ hervorragend erholsam. Ein opulentes Frühstück, von Michael und Gert professionell bereitet, versichern den vielversprechenden Start in einen weiteren sonnigen Tag. Elke unternimmt eine Foto-Safari um „Fresenhagen 11“ rechts herum, ich danach links herum – Siehe Galerie, auch mit Ansichten einer geschätzt 20x12x6-7m Veranstaltungshalle, „Winnetous Garage“ im südwestlichen Teil des Geländes, mit eigener Zufahrt.

Gert verspricht und hält es, einen Besuch des Arbeitszimmers von Rio zu ermöglichen. „Es ist jetzt über 13 Jahre her – es duftet noch immer so, als hätte Rio den Raum gerade verlassen. Es ist wohl das indische Öl, das er gern hatte,“ sagt Gert und: „Das weiße Klavier hat vor nicht allzu langer Zeit ein Klavierstimmer untersucht. Der war ganz verdutzt, wie hervorragend es nach wie vor stimmt und klingt.“

Die Frage, ob man hier filmen dürfe: "Na klar!" – und in scheuer Distanz lässt er mich mit dem Zimmer allein. Wie ich überhaupt den sehr angenehmen Eindruck habe, dass er sich zwar mit ganzer Kraft in den Dienst der Erinnerung an seinen Bruder stellt, seine eigene Person aber so beiläufig wie konsequent zurücknimmt. Man nennt das wohl Bescheidenheit.

Und hier ist sie wieder, diese bereits beschriebene innere Ruhe. Dieser fast intime Moment der existenziellen Nähe zu einem Menschen, dessen Bild in mir für mich persönlich sehr wertvoll ist.

Es hat mit diesem Tag und besonders mit diesem Moment in Rios Arbeitszimmer so viel an Füllung durch alle Sinne bekommen, die meine Erwartungen weit in den Schatten stellt.

Die Erinnerung an diesen Moment ist mir seit dem Anker für etwas, das man Be-Sinnung, vielleicht sogar Gebet nennen könnte – wenn mir das irgend ein Gott verzeihen mag.

Video "Zuhause" -
Eindrücke von Fresenhagen 11

Gert Möbius versorgt uns noch mit diversen Autogrammkarten von Rio, mit DEM sw Ton-Steine-Scherben-Plakat, dem Buch über „Geschichten, Noten, Texte und Fotos aus 15 Jahren Ton Steine Scherben“ und verspricht, uns eine DVD zuzusenden: „RIO REISER, Konzert, Videos, Interviews“ – mehr als drei Stunden Spielzeit mit vielen Extras.

Inzwischen ist sie da, Absender: Möbius Rekords, Köhlerstraße 41, 12205 Berlin, und wir können sagen: Ausgesprochen empfehlenswert!, u.a. tolle Aufnahmen des DDR-Fernsehens vom Konzert in der Seelenbinder-Halle 1988.

So gut sind Rios Auftritte davor und danach nie filmtechnisch dokumentiert worden, cit. Gert Möbius, - wir glauben ihm nach dem genussvollen Konsum dieser DVD. Die darin gezeigte Art der "erwachsenen" Konzertdokumentation, bei der die Musiker, ihre Musik und Bühnenpräsenz im absoluten Mittelpunkt stehen, ist Ausdruck eines gebührenden Respekts vor der künstlerischen Leistung. Pubertäre Kamera"äkschn", profilneurotische Regisseure und, im Digitalis-Zeitalter zunehmend nervende, aufnahme- und wiedergabetechnische Kinkerlitzchen sind das Gegenteil...

Ein riesiges Dankeschön an die beiden von Fresenhagen 11, Michael und Gert, vor allem an letzteren. Tschüss bis zum nächsten Mal. Ein Abschied, der eigentlich eher eine Ankunft ist, in der Zeit, seit der neben den Liedern von Rio in mir der bis dahin freigehaltene Platz gefüllt ist. Längst verlor'n Geglaubtes war nie wirklich weg, war wohl nur zu gut versteckt!

„...Land in Sicht,
singt der Wind in mein Herz.
Die lange Reise ist vorbei.
Morgenlicht weckt meine Seele auf.
Ich lebe wieder und bin frei.“

Elke und Karlheinz


Zur Galerie 1

Fotos mit der Spiegelreflexkamera.

Wenn der Bildschirm nicht groß genug ist, gehe mit Firefox auf "Ansicht" und "Vollbild" oder auf F11. Der Cursor auf den Miniaturen zeigt die Bildtitel darunter. Der Klick auf das Fragezeichen sortiert das Ganze noch mal neu. Probiere!


A propos Flucht- bzw. Brandtüren in Reetdachhäusern: 

Seit Ende des 18. Jahrhunderts wurden die an den Längsseiten von Reetdach-Häusern mit einem eigenen Spitzgiebel gebaut, so dass bei einem Dachbrand brennendes Reet seitlich hinunter und nicht direkt vor den Ein/Ausgang rutscht. Alle anderen Seiten des Reetdaches sind bei einem Brand Todesfallen.

Siehe: Uthlandfriesisches Haus auf Amrum [x]»

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