Das Aufnehmen der Leinen


Dieser unscheinbare Teil im Ablauf der umfänglichen Vorbereitungen für eine Kutschfahrt hat das Potenzial eines Match Points. In enger zeitlicher Nachbarschaft reiht sich eine kleine Zahl von Aktionen, deren Ausführung über das nachfolgende harmonische und sicher Gelingen unmittelbar entscheidet.

Die Ausformulierung dieses Ablaufs ist nicht zu verwechseln mit einem etwa jederzeit fehlerfrei aufzusagenden Gedicht, dem oft geringschätzig titulierten "Leinen Spruch". Es geht vielmehr um eine Art virtuelle Hantel für ein "mentales Training", bei dem Reihenfolge und Bedeutung der einzelnen Aktionen schließlich zu nicht mehr in jedem Augenblick bewussten Steuerungsimpulsen variabler Automatismen werden. (uiii!)

Bei unserem ersten selbst zu verantwortenden Fahr-Versuch ist mir das Aufnehmen der Leinen eher etwas improvisiert und unorganisiert "gelungen". Ich vermute, dass dies einer der Gründe für den "nicht ganz unproblematischen" Verlauf dieser Fahrt war.

Hier ist das Ergebnis einer "Straf"arbeit, die ich mir daher verordnet und zu der ich verschiedenste Quellen genutzt habe.

Wer in dieser ausführlichen Version des berühmten LEINENSPRUCHs immer noch Fehler entdecken sollte, behalte sie bitte nicht für sich.

Der Empfänger von
>e.k.damerow@t-online.de<
ist für jeden Hinweis dankbar.

Karlheinz


Die Pferde stehen angespannt vor der Kutsche, der Beifahrer sichernd davor.

Ich überzeuge mich vom ordnungsgemäßen Zustand des Gespanns, indem ich darum herum gehe, nach allen Schnallen und Strippen schaue und Pferde und Wagen prüfe 1).

Nun stelle ich mich in Höhe des Kammdeckels/Seletts, links neben dem linken Pferd in Grundstellung ²) auf, so dass ich mit dem ausgestreckten rechten Arm den Kammdeckel erreiche.

Jetzt nehme ich die Leinen unter der Oberblattstrupfe heraus und lege sie mir geordnet, also: 'Haarseite nach oben, linke Leine zum Handgelenk, rechte Leine zur Ellenbogen-Beuge', über den linken Unterarm.

Dann ergreife ich die rechte Leine unmittelbar hinter der Kreuzschnalle, zwischen Mittel- und Zeigefinger der rechten Hand, und nehme Fühlung mit dem rechten Pferd(emaul) auf.

Der Beifahrer, der vor den Pferden steht, diese an beiden Innenleinen festhält und darauf achtet, dass ihre Köpfe geradeaus gerichtet sind, meldet: „(Führ/lung) Angekommen.“

Dann gleite ich mit der rechten Hand auf der rechten Leine nach unten an die Hosennaht, bis der rechte Arm gestreckt ist. Diese Stelle der Leine halte ich unbedingt fest ³).

Mit der linken Hand übergebe ich nun die linke Leine zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Dann schiebe ich die linke Leine an der rechten (unverändert festgehaltenen!) Leine gleitend, so weit vor, bis die Schnalle der linken Leine 5 cm vor der Schnalle der rechten Leine ⁴) zu liegen kommt ⁵).

Nun übergebe ich beide Leinen der linken Hand in Grundhaltung.

Passend zum Abstand von den Pferden zum Bock 6) verlängere ich die Leinen um einige Zentimeter. Das Ende des Handstücks ⁷) liegt über dem linken Unterarm.

Bei jungen Pferden lege ich eine große Schleife mit der linken Leine unter den linken Daumen, um damit einem Wegtreten der Pferde nach rechts vorzubeugen.

Dann gehe ich - mit Blickrichtung zu den Pferden - rückwärts-seitwärts zum Wagen und steige auf den Bock ⁸). Beim Überschreiten der Bockmitte lasse ich durch Öffnen des Daumens die Schlaufe der linken Leine durchgleiten und setze mich sofort hin. Ein prüfender Blick auf die Leinen sagt, ob die Verbindung zum Pferdemaul gegeben ist 9). Wenn nicht, korrigiere ich dies sofort.

Mit der rechten Hand nehme ich das Leinenende vom linken Unterarm und lege es auf den linken Oberschenkel. Dann ergreife ich die Peitsche mit der rechten Hand, übergebe sie zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand.

Nun findet man zwei Möglichkeiten:

1. Nun rufe ich dem Beifahrer vor den Pferden zu: „Ich bin bereit zum Anfahren“.

2. Nun nehme ich Augenkontakt mit dem Beifahrer auf und nicke ihm deutlich zu - im vorher vereinbarten Gedanken: Ich bin bereit zum Anfahren 10).

Nachdem der Beifahrer den Platz vor den Pferden verlassen und den Wagen bestiegen hat, öffne ich mit der rechten Hand die Bremse, nehme die Arbeitshaltung ein, stelle die Pferde ans Gebiss und mit den Köpfen ein wenig nach rechts.

Vor jedem Anfahren folgt nun eine unterschiedlich lange Pause mit absolutem Stillstand der Pferde. Die Pferde dürfen sich grundsätzlich nicht daran gewöhnen, dass das Antreten unmittelbar nach dem Signal „… bereit zum Anfahren“, erfolgen müsse 11).
Siehe auch
10).

.....

Zum Anfahren stelle ich die Pferde mit einem kurzen verstärkten Annehmen 12) der Leinen an das Gebiss. Im selben Moment gebe ich die Leinen nach vorne, Richtung Pferdemaul nach 13), und mit dem gleichzeitigen Zuruf: „Komm“ achte ich darauf, dass beide Pferde gleichmäßig, miteinander und geradeaus antreten.

"Gute Fahrt!"


1) Nötigenfalls werden Strippen versteckt oder wird der große Bauchgurt nachgezogen. Besonders wichtig: Ist die Deichsel gesichert? (Deichselnagel in Position, mit Splint gesichert!). zurück

2) Grundstellung = bewegungslos stehen. zurück

3) Die festgehaltene Stelle der rechten Leine markiert mein Leinenmaß. zurück

4) ...bzw. bei Ausgleichsschnallung: 5 cm über das jeweilige Normalloch der rechten Leine hinaus. Bezugspunkt ist aber in jedem Fall das Normalloch (das mittlere), also auch dann, wenn es nicht zum Schnallen genutzt wird. zurück

5) Damit ist Leinengleichheit hergestellt. zurück

6) Was 'passend' ist, hängt ab von der Bauart des Wagens und der Anspannungsart. zurück

7) Ende des Handstücks = Leinenende. zurück

8) Je nach vorhandenen Aufstiegshilfen - 2 Tritte: re-li-re, oder, 1 Tritt: li-re. Ein gefährliches Überkreuzen der Beine wird so vermieden. Die vorgesehene/n Halterung/en für beide Hände werden genutzt. zurück

9) Es ist besser, jetzt die Leinen zu verkürzen oder zu verlängern, als mit zu kurzen oder zu langen Leinen zu fahren. zurück

10) Die zweite, visuelle Möglichkeit der Signalübertragung vermeidet in diesem Fall, dass die Pferde damit die Aufforderung zum Antreten verbinden und vorwegnehmen könnten. Wir haben sie nach unserem Lehrer, Stefan Schwarz, so geübt. Mir erscheint auch die Begründung dafür plausibler als für ein akustische Signal an den Beifahrer; Wenn auch natürlich dessen Verlassen seiner Position eine ähnliche Signalwirkung auf die Pferde haben könnte.... you never can tell! zurück

11) Darüber hinaus ergibt sich im „Kutschenalltag“ immer wieder eine unterschiedliche Dauer des Einsteigens z.B. durch mehr oder weniger, eventuell auch gehbehinderte Fahrgäste, oder durch die Notwendigkeit für längeres Stehen beim Halten vor Ampeln, beim Achten der Vorfahrt…. zurück

12) Annehmen und Nachgeben geschehen immer in den Handgelenken. Die Leinen werden nicht zurückgezogen. Für gut gefahrene Pferde ist das Annehmen eine Aufforderung zum Antreten. zurück

13) Das heißt nicht, die Leinen wegzuwerfen und keine Verbindung mehr zum Pferdemaul zu haben. Die Pferde brauchen zum Antreten durch ausholendere Kopfgewegungen etwas mehr Leine, bis sie richtig im Gang sind und der Wagen rollt. zurück


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