Tierhaltung zwischen Bauchgefühl, Vorurteil und Wissenschaft

Ist artgerecht gleich natürlich? Ist natürlich gleich die Welt ohne Mensch? Welches "Tierrecht" ist zu schützen, wenn sich ein Lebewesen in der Obhut des Menschen nachweislich wohlfühlt?

Ist ein überprüfbar gemessenes Wohlbefinden das Goldkriterium für artgerechte Tierhaltung? Ein Besuch beim Verhaltensbiologen Immanuel Birmelin.

Heisterberg, 8. Mai 2017


Exzerpt des Artikels:

Sinn und Unsinn
Wo die wilden Tiere wohnen
VON BARBARA HORDYCH

Süddeutsche Zeitung, 5. Mai 2017

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Eine Sternstunde der Mensch-Tier-Kommunikation

Der Verhaltensbiologe Immanuel Birmelin forscht über die Beziehung von Elefant oder Löwe zum Menschen.


Die afrikanische Elefantenkuh Mala hält abrupt inne. Ein anderer Elefant steht plötzlich direkt vor ihr und schaut sie an. Sie trompetet mit aufgerichtetem Schwanz - und geht auf „ihr Gegenüber“ los. Der Tiertrainer, der sie an einer dünnen Leine führt, redet sanft auf Mala ein und bringt sie zehn Zentimeter vor dem Spiegel zum Stehen. Was Mala nicht erkannt hat: Ihr vermeintlicher Widersacher ist sie selbst. Die Frage ist:

Wird Mala lernen, sich selbst in ihrem Spiegelbild zu erkennen?

Die Szene ist Teil eines Videos über eine Versuchsanordnung, die der Tierverhaltensforscher Immanuel Birmelin und der Tiertrainer Sonni Frankello an einem Elefantenhof in Mecklenburg durchgeführt haben. Birmelin: Dieser Test gibt, mehr als die meisten Erklärungsversuche, Aufschluss über die Frage: „Wie gelingt es, ein - normalerweise wild lebendes - Tier dazu zu bringen, das zu tun, was ein Mensch von ihm verlangt?“.

Birmelin ist begeistert davon, wie Frankello Vertrauen zu Mala aufbaut: "Sonni ist in vierter Generation Elefanten-Trainer. Es ist fantastisch, wie er nur über seine Stimme mit seinen Tieren kommuniziert. Da ist keinerlei Druck, nichts Angstmachendes." Der 72-jährige Verhaltensbiologe hält es daher für absurd, wenn Leute im Training Frankellos Tierquälerei entdecken wollen.

Immanuel Birmelin ist mit seinen Forschungen zur Kognition bei Tieren („Haben Tiere ein Bewusstsein?", „Tierisch intelligent?") einer der maßgeblichen Verhaltensbiologen in Deutschland. Seit mehr als 30 Jahren widmet er sich der Erforschung von Haus-, Zoo- und Zirkustieren, von Hunden, Katzen und Sittichen ebenso wie von Löwen oder Elefanten.

Besonders interessant macht den Gründer des Vereins für Verhaltensforschung aber derzeit sein Spezialgebiet: Die wissenschaftliche Erfassung von Tierschutzfragen und seine Arbeit als international anerkannter Sachverständiger für artgerechte Tierhaltung - ein hochvermintes Gebiet.

Der Streit um die Frage, ob man Wildtiere in Zoo und Zirkus halten darf, wird immer heftiger geführt. Gestritten wird in vielen Ländern. In diesem Mai stellt etwa der berühmte amerikanische Zirkus Ringling Bros. and Barnum & Bailey nach 146 Jahren den Betrieb ein. Er hatte vor zwei Jahren nach Protesten seine beliebte Elefanten-Schau aus dem Programm genommen, daraufhin war der Ticketverkauf eingebrochen. Tierschützer fordern immer massiver ein Verbot von Wildtieren im Zirkus, eine artgerechte Haltung von Elefanten und Raubkatzen sei dort nicht möglich.

Birmelin ist da ganz anderer Meinung. Er selbst sieht sich als "Tierfreund". Bitte ausdrücklich nicht zu verwechseln mit "ideologischer Tierschützer" (noch ausdrücklicher: mit „messianischer Tierrechtler“ – sagt: K). Da ihm Vorurteile, auch und gerade im Zusammenhang mit Tierhaltung ein Gräuel sind, forscht Birmelin nach Belegen, die ein weit verbreitetes, heillos romantisierendes Verständnis von „Wildtieren“ zurechtrücken. Sein wichtigstes Argument führt zurück zur Elefantendame Mala und ihrem Trainer Frankello: Alle romantischen Vorstellung vom "Wildtier" geraten ins Wanken, wenn man sich bewusst macht, dass diese Tiere nicht nur lernfähig (Lernen = Verhaltensänderung) sind, sondern auch eine innige Verbindung zu Menschen aufbauen können.

Ist die Elefantendame also in der Lage, sich selbst im Spiegel zu erkennen? Kinder können das im Alter von etwa anderthalb Jahren. Auch Menschenaffen, Delfine, Elstern und Asiatische Elefanten. Aber können das auch Afrikanischen Elefanten, die wesentlich aggressiver sind als ihre umgänglichen asiatischen Artgenossen?

Frankello und Birmelin lassen Mala vor dem Spiegel Zeit. Irgendwann beginnt sie, Bewegungen mit dem Rüssel zu machen - "freundliche Rüsselspiele. Dann der Test: Birmelin bringt auf Malas Stirn ein Klebeband mit einer Plastikbanane an. Wieder vor den Spiegel geführt, macht Mala schon Anstalten, mit dem Rüssel in Richtung Spiegel zu greifen, hält dann aber inne - und angelt sich die Banane von der Stirn. Birmelin begeistert: "Das war einer der tollsten Momente in meiner langen Laufbahn als Verhaltensbiologe".

Im Zirkus-Streit nahm Birmelin Kontakt auf zu einem der renommiertesten Raubtiertrainer der Welt, dem Engländer Martin Lacey jr. beim Circus Krone in München. Für Birmelin ein Glücksfall: "Zwischen ihm und seinen Löwen herrscht tief gehendes Vertrauen, und er war sofort bereit, bei unseren Versuchen mitzuwirken." Für die Messungen des Stresshormons Cortisol in den Speichelproben war es notwendig, den Tieren ins Maul zu greifen und Tuben herauszunehmen, auf denen sie herumgekaut hatten. Birmelin: „Ich kenne derzeit keinen anderen Raubtierlehrer auf der Welt, der dazu ohne Betäubung der Tiere in der Lage wäre.

Hintergrund waren massenhaft von Tierschützern/(besonders unfrustrierbar von Tierrechtlern! – K) geäußerte Vorwürfe, dass Zirkustiere beim Transport von Gastspielort zu Gastspielort leiden. Also machte sich Birmelin mit Laceys Hilfe daran, die Cortisolwerte vor, während und nach einer langen Reise, in diesem Fall von Monaco nach München, zu messen. Ergebnis? Birmelin: "Laceys Löwen waren genauso entspannt wie ihre Artgenossen in der Serengeti". Für den Laien, als Stresslevel auf einer Skala von eins bis zehn: "Laceys Löwen hatten durchgehend zwei bis drei. Die Einzigen, die Stress hatten, waren die Lkw-Fahrer am Steuer - die hatten einen Pegel von sechs bis sieben!"

Heute sei erwiesen, dass die Ausschüttung des sogenannten Bindungshormons Oxytocin nicht nur bei Menschen, sondern auch bei anderen Säugetieren, ein Parameter für das Wohlbefinden ist. Dieses Hormon bewirke gleichzeitig die Senkung des Stresshormons Cortisol. Birmelin: "Ein Phänomen, das die Tierschützer bei der ganzen „Diskussion“ über das Verbot von Wildtieren im Zirkus nicht berücksichtigen“.

In einer anderen Untersuchung wollte Birmelin herausfinden, ob Laceys Löwen ausreichend Bewegung haben. "Dazu muss man wissen, dass Löwen von Natur aus ziemlich "faul" sind", sagt Birmelin, der für seine Filmdokumentationen mehr als 1000 Stunden mit wilden Löwen und Elefanten in Afrika verbrachte. In der Natur dösen und schlafen Löwen 18 bis 22 Stunden täglich.

Warum so träge? "Wer 20 Kilogramm pro Tag frisst, braucht die Energie zum Verdauen", sagt Birmelin. Das kostbare Gut Energie wird zur Jagd, zur Partnersuche und Paarung benötigt, darf also nicht durch „unnötige Handlungen“ vergeudet werden. Einen Luxus wie "spazieren gehen" könnten sich nur Menschen leisten. Birmelin ärgert sich deshalb über "völlig irreführende, aneinandergeschnittene Filmaufnahmen von sprintenden Löwen. Sie prägen einerseits ein falsches Bild vom Bewegungsverhalten des Wildtiers. Wer dann erlebe, wie intensiv sich Löwen in einer Manege bewegen, der könne dann aber nicht mehr behaupten, die Tiere litten unter Bewegungsmangel. Was Ruhe- und Aktivitätsphasen der Raubtiere angeht, unterscheidet sich das Verhalten der Tiere in der Natur kaum von dem der Löwen im Zirkus oder im Zoo von Basel.

Und was ist mit dem Vorwurf der Tierschützer, die Tiere im Zirkus und ihre menschenbezogenen Leistungen seien "zutiefst unnatürlich?" Für Birmelin ist dies erneut ein Beispiel für den romantischen Naturbegriff vieler Menschen, der so aussieht: "Man nehme die Welt, wie sie ist, ziehe die Menschen und ihre Eingriffe ab, und der Rest ist dann unverfälschte Natur". Zur Natur der Raubkatzen gehört aber alles, was sie von sich aus zeigen und entwickeln. "Warum sollten wir nur das gelten lassen, was sie uns in Afrika oder Asien unter den dort herrschenden Bedingungen vorführen? Mit dem gleichen Recht könnten wir behaupten, es gehöre zur Natur der Eskimos, in Iglus zu wohnen oder zur Natur der (US)Amerikaner, sich möglichst auf vier Rädern fortzubewegen."

Nicht nur Menschen, auch Wildtiere sind enorm anpassungsfähig. "Der genetische Rahmen ihrer Verhaltensmöglichkeiten ist so weit gesteckt, dass er auch emotionale Bindungen zu artfremden Lebewesen wie dem Menschen möglich macht. Maßstab für die Qualität der Haltung von Raubtieren sollte daher weniger der diffuse/schwammige Begriff "Natürlichkeit" sein, sondern vielmehr die Frage nach dem „Wohlbefinden“ der Tiere. "Das Wohlbefinden der Raubtiere hängt nun mal maßgeblich von der Bindung Mensch-Tier ab. Genau das wird von den Tierschützern/rechtlern! grundsätzlich vergessen".

Sorgen bereitet Birmelin eher der Umgang der Menschen mit Haustieren, vor allem mit Hunden. "Die herrschende Vorstellung ist: Hunde haben zu gehorchen". Dabei sind auch Hunde im Rudel Persönlichkeiten, selbst wenn sie eine untergeordnete Stellung haben. Man muss auch ihnen Freiräume lassen, in denen sie ihre Individualität ausleben dürfen. "Nach meiner Einschätzung wird die Persönlichkeit des Hundes zu wenig respektiert."

Birmelins eigener Bernhardiner Balu ist da ein guter Spiegel. Er gehorcht nur aufs Nötigste. Fremden gegenüber erweist er sich als idealer Wachhund. Birmelin muss seiner Besucherin erst den Arm um die Schultern legen, damit Balu begreift, dass man in freundlicher Absicht gekommen ist. "So ist er nun mal", sagt Birmelin verständnisvoll.

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