Die Revolution des Fortpflanzungsverhaltens?

Mehr Freiheit, mehr Verantwortung?

Vor gut zweihundert Jahren war London mit einer Million Einwohnern die größte Stadt der Welt.

Von seinen ca. 500 Tausend weiblichen Einwohnern hatten 50.000, also weit mehr als jede zehnte Frau, häufig wechselnde Sexualpartner. Einige von ihnen, freiberufliche Kurtisanen, wurden ähnlich angehimmelt und waren so reich wie Popstars.

Der Geschichts-Wissenschaftler Faramerz Dabhoiwala meint, dass wir uns auch heute noch, seit 250 Jahren in der „sexuellen Revolution“ befinden.

Die Idee der Gleichheit von Mann und Frau, die Toleranz gegenüber Lesben und Schwulen existieren schon lange. Sie wurden im 20. Jahrhundert lediglich massenkompatibel. Ebenso wie heute der Sado-Masochismus oder dass Zehnjährige jede Art von Pornographie im Internet anschauen.

Allesamt Zeichen für immer größer werdende sexuelle Freiheit, für DAS moderne Konzept der Sexualität: Der eigene Körper als privates Eigentum.

Am Ende dieser Revolution werde die vollständige Emanzipation der Frauen stehen.

Werden dann weniger oder mehr als 10 Prozent von ihnen „Allgemeine, Alma, Amatöse, Amüsiermädchen, Amüsiermatratze, Anschaffefrau, Asphaltwanze, Asphaltbiene, Autobiene, Berufsamüsiererin, Berufsmäßige, Beserl, Bettmaid, Biene, Bolzen, Bordsteinschwalbe, Briefkasten, Bruchbiene, Brunzwinkel, Bumsmädchen, Call-Girl, Chonte/Konnte, Dämchen, Dame der zehnten Muse, Dirne, Dulle, Fensterdirne, Fetze, Flittchen, Freudenmädchen, Fuchtel, Futt, Gammel, Geländenutte, Gunstgewerblerin, hwG-Frau, Hatsche, Hoppemädchen, Horizontalgewerblerin, Horizontalhostess, Hübschlerin, Hure, Kalle, Kiekse, Kille, Kletterhanne, Kletterjule, Kobelmädchen, Lebemädchen, Leisten, Lercherl, Liebesdienerin, Lustmatratze, Mädchen für alle, leichtes Mädchen, Masseuse, gestiefeltes Mäuschen, Matratze, Matte, Metze, Mietsche, Mieze, Mimi, Miss Gunst, Möse, Motte, Muschi, Nachthyäne, NATO-Marlene, Neppfrau, Nutte, Pimperliese, Pimpernelle, Pritsche, Prostituierte, Puffbiene, Randsteinsirene, Registerdame, Rokokokokotte, Rummelnutte, Schickse, schiefes Gepiss, Schlampe, Schlapfen, Schnalle, Schnepfe, Schrapnell, alte Schrippe, Sexualdemokratin, Sexualhelferin, Sitzjule, Solchene, Spritzbüchse, Steckdose, Straßenfeger, Streune, Strichbein, Strichhure, Strichninchen, Strieze/Strizze, Tebe, Tiffe, Tilla/Tille, Tippelschickse, Trina, Veronika, Viertelstundenlöhnerin, Volksempfängerin, Wachtel, Wanze, Wetze, Witsche, Zahn, Zibbe, Zusel, Zotte, ...“ sein?

Werden mehr oder weniger als ein Viertel aller Kinder außerehelich geboren werden?


Faramerz Dabhoiwala, 43,

wurde im Westen Englands geboren. Seine Eltern waren kurz zuvor aus Indien immigriert, damit der Vater sein Studium der Chirurgie abschließen konnte. Als Dabhoiwala fünf Jahre alt war, zog die Familie weiter nach Amsterdam. Nach dem Abitur mit 18 ging Dabhoiwala wieder zurück nach Endland, als Stipendiat nach Oxford. Heute lehrt er dort selbst Geschichte. Sein Buch „The Origin of Sex“ wurde in England ein Bestseller. Dabhoiwala hat zwei Töchter mit seiner Lebensgefährtin Jo, denen er das Buch gewidmet hat. Es wird im kommenden Jahr auf Deutsch erscheinen.


Exzerpt eines Interviews von TOBIAS HABERL


Faramerz Dabhoiwala: Ich bin in Amsterdam großgeworden, in einem wunderbar liberalen und toleranten Klima. Nachdem ich 1987 nach England gezogen war und dort eine Margaret Thatcher und ihren Versuch erlebte, die Freiheit homosexueller Menschen zu beschneiden, und wie in panischer Angst vor Aids Gesetze verabschiedet wurden, die seine weitere Ausbreitung verhindern sollten, fing ich an, mich für die politische Dimension von Sexualität zu interessieren.

Ich las nun alles, was mit dem Thema zu tun haben könnte: Gerichts-Urteile, Polizei-Berichte, Briefe, Notiz-Zettel, journalistische, philosophische, literarische Texte. Ich wollte herausfinden, wie die Menschen mit den Sexual- und Moral-Vorstellungen ihrer Zeit lebten, aber auch, wie sie darunter zu leiden hatten.

Bei den Quellen-Studien zu meinem Buch hat mich ein Detail seither nicht mehr losgelassen: Um 1650 gab es Prostituierte, die zum Tod verurteilt wurden. Hundert Jahre später versuchte man, sie in speziellen Häusern zu Dienstmädchen zu erziehen. Aus Bestrafung war Mitleid geworden. Ein fundamentaler Wertewandel.

Nach 15 Jahren dieser Lektüre bin ich mir heute viel mehr bewusst, dass es ein Geschenk ist, frei entscheiden zu dürfen, wen man liebt und mit wem man schläft.

Um 1600 wurde man für Sex vor oder außerhalb der Ehe überall in der westlichen Welt verbannt, ausgepeitscht, eingesperrt oder hingerichtet. Für Homosexualität und Sodomie natürlich erst recht. Es gab eigene Gefängnisse für Ehebrecher. Männern, die ein Bordell führten, brannte man ein großes ‚B‘ für Brothel auf die Stirn ein.

In Skandinavien, das heute als Vorzeige-Region für Toleranz gilt, wurden Menschen zu Hunderten erschossen, weil sie Sex mit Kühen gehabt hatten. Natürlich ist es nicht okay, Sex mit Kühen zu haben. Es geht aber um den Umgang mit diesem Fehlverhalten.

Ebenso wie die Demokratie ist die sexuelle Freiheit nicht selbstverständlich, sondern eine Errungenschaft, die über Jahrhunderte erkämpft worden ist. Wir zeigen mit dem Finger auf die Taliban und vergessen, dass sexuelle Freiheit auch bei uns im Westen erste seit 250 Jahren existiert.

Vorher war der Gedanke, dass Sex eine Privatsache sein könnte, geradezu bizarr. Im Grunde hatten nur reiche Männer der Oberschicht freien Sex, alle anderen mussten darunter leiden, vor allem die Frauen.

Das heißt aber nicht, dass Frauen erst seit kurzer Zeit Freude an Sex hätten. Bis 1700 glaubte man nämlich, dass eine Frau nur schwanger werden kann, wenn sie einen Orgasmus hat. Sie können sich vorstellen, wie sich ein Mann angestrengt hat, der Vater werden wollte.

Außerehelicher Sex war so streng verboten, weil Gott ihn nicht mag und weil, wer sexuelle Freiheit toleriert, früher oder später Opfer des gesellschaftlichen Verfalls würde, der durch sie in Gang gesetzt wird. Anarchie, Krankheiten, eine gestörte Sozialordnung durch alleinstehende Frauen und uneheliche Kinder, die das Gemeinwesen belasten.

Ehebruch war beides: Sünde und Verbrechen. 1746 fand die letzte öffentliche Strafverfolgung in England für außerehelichen Sex statt.

Wer bei dem Begriff „sexuelle Revolution“ an die Sechzigerjahre, an nackte Hippies, Kommunen, die Geburtsstunde des Feminismus denkt, liegt falsch. Um 1800 hat sich eine so vollkommen neue Art des Denkens etabliert, dass man nur von einer sexuellen Revolution sprechen kann, die viel fundamentaler war als die sexuelle Befreiung der 68er.

Um 1650 wurde nur eines von 100 Kindern außerhalb der Ehe geboren. 1800 waren es 25 Prozent. Die Menschen mussten auf einmal keine Angst mehr haben. Zwar haben sie schon damals mit Verhütung experimentiert, hatten aber keine Ahnung, wie sie funktioniert.

Die zweite sexuelle Revolution, die der 68er, hat nur das vollendet, was in den Jahrhunderten zuvor losgetreten worden ist. Die Idee der Gleichheit von Mann und Frau, die Toleranz gegenüber Lesben und Schwulen, das alles war lange vorher da und wurde im 20. Jahrhundert lediglich massenkompatibel.

Nach einem fast 300 Jahre alten Polizei-Bericht wurde ein gewisser William Brown 1726 festgenommen, nachdem man ihn mit der Hand in der Hose eines anderen Mannes erwischt hatte. Er antwortete: „Ich glaube nicht, dass es ein Verbrechen sein kann, wenn ich tue, was mir guttut.“ Der eigene Körper als privates Eigentum, das ist exakt unser modernes Konzept von Sexualität.

Bis 1700 galten Frauen als das lustvolle Geschlecht. In der Bibel und Texten dieser Zeit wird die Lust als gefährliche Leidenschaft beschrieben, die es zu kontrollieren gilt. Weil Frauen schwächer sind, waren sie das Geschlecht, dem dies weder körperlich noch moralisch gelingt. Faktisch vergewaltigten Männer die Frauen, theoretisch war es die Lust der Frau, die den Mann dazu gebracht hat.

Das galt bis 1800. Von da an galten Männer als das Geschlecht mit dem stärker ausgeprägten Sexualtrieb. Nun werden Frauen von ihnen verführt, oft auch gewaltsam. Nun sind die Frauen auf einmal die Opfer der Männer, vorher war es umgekehrt.

In dieser Zeit explodierte die Medienwelt, Zeitungen, Journale, Magazine. Frauen, die ihre Gefühlswelt in journalistischen und literarischen Texten beschrieben, fanden immer mehr Gehör. Es ist die große Zeit des Romans, eine vollkommen neue Art des Schreibens, die den Leser viel direkter ins Bewusstsein der Figuren schauen lässt als ein Drama, das auf einer Bühne aufgeführt wird.

Angesichts der neuen sexuellen Freiheit explodierte das Geschäft mit käuflichem Sex. Man schätzt, dass in London, um 1800 die größte Stadt der Welt, rund 50.000 Frauen ihre Körper verkauften. Das Geschäft war übrigens ähnlich organisiert wie heute. Es gab Heruntergekommene in dunklen Gassen, andere arbeiteten in Laufhäusern und es gab freiberufliche Kurtisanen, die viel ‚Geld verdienten und wie Popstars angehimmelt wurden.

Eine Prostituierte namens Fanny Murray soll zum Beweis ihres Reichtums eine 20-Prund-Note – das entspricht heute etwa 25.000 Euro – in ein Sandwich geschoben und gegessen haben.

Damals wurde Prostitution übrigens nicht negativ bewertet. Viele Intellektuelle hielten sie, genau wie die Polygamie, für eine geeignete Methode, damit Männer ihre „Triebe ausleben“ konnten, ohne das Fundament der Gesellschaft, nämlich die bürgerliche Familie, zu beschädigen. Wer offiziell viele Frauen haben darf, muss die Ehe mit einer nicht brechen und lässt keine verarmte Frauen zurück, die der Gemeinschaft zur Last fallen.

Das Buch „50 Shades of Grey“ ist für mich ein Beleg dafür, das Sado-Masochismus massenkompatibel geworden ist. Ich bewerte den Roman nicht positiv, aber er ist eine Art Beleg dafür, wie wir die Grenzen der sexuellen Freiheit immer noch weiter ausdehnen.

Wenn heute Zehnjährige per Mausklick alle möglichen Pornos anschauen können, dann ist das ein Teil der Freiheit. Und Freiheit, auch sexuelle Freiheit, ist immer beides, eine Errungenschaft, aber auch ein Problem. Widersprüchlichkeit ist der Preis der Freiheit.

Wir leben in einer extrem pluralistischen Gesellschaft. Es gibt nicht mehr den einen richtigen Weg oder die eine kohärente Weltsicht.

Natürlich führt das auch in der Sexualität zu Orientierungslosigkeit. Was ist natürlich? Wo beginnt Perversion? Alles Dinge, die sich ständig verschieben.


Wer das ganze Interview lesen möchte, gehe zu:

Faramerz Dabhoiwala
über
Sex

Interview: TOBIAS HABERL
Süddeutsche Zeitung WOCHENDE INTERVIEW, 15. Dezember 2012


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